Corona-Krise für Obdachlose «Katastrophe» - Hilfe auf Sparflamme Von Julia Giertz und Marijan Murat , dpa

Zu Hause bleiben ist in der Corona-Krise der allgemeine Appell. Doch
was machen Menschen, die gar kein Zuhause haben? Die Möglichkeiten,
ihnen zu helfen, sind derzeit stark begrenzt.

Stuttgart (dpa/lsw) - Michael Müller (Name von der Redaktion
geändert) steht mit Rucksack, angeschnalltem Schlafsack und
Plastiktüte vor der Tagesstätte «Olga 46» in Stuttgart. Es ist kalt

und der bärtige Mann mit Wollmütze hat eine frostige Nacht am
Hauptbahnhof hinter sich. In Zeiten, in denen wegen der Corona-Krise
alle zu Hause bleiben sollen, hat er kein Zuhause. Und Aufwärmen kann
er sich in der Tagesstätte auch nicht wie sonst. Er kann sich nur ein
kostenloses Frühstück und später für einen Euro Mittagessen abholen
.
Gemütliches Beisammensein in geheizten Räumen ist wegen der
Corona-Krise passé. Müller möchte die Nacht nicht noch einmal drauß
en
verbringen. «Ich hole mir einen Beratungsschein, damit ich heute in
einer Notunterkunft schlafen kann», erzählt der 59-Jährige.

«Vergesst diese Menschen nicht», sagt der Leiter der Einrichtung,
Harald Wohlmann. Nach seinen Angaben ist Müller einer von geschätzt
300 Menschen in Stuttgart, die derzeit kein Dach über dem Kopf haben
- und einer von täglich 30 Besuchern, die das Angebot in der
Olgastraße 46 derzeit wahrnehmen. Hinzu kommen 4000 Menschen in
Unterkünften mit mehr oder weniger Betreuung.

Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungsloser waren im
Laufe des Jahres 2018 rund 678 000 Menschen in Deutschland ohne
Wohnung, ein Anstieg um vier Prozent. Dabei wuchs die Zahl der
wohnungslosen Menschen ohne wohnungslose anerkannte Geflüchtete um
1,2 Prozent auf 237 000, die der wohnungslosen anerkannten
Geflüchteten um 5,9 Prozent auf 441 000. Rund 41 000 Männer und
Frauen machen bundesweit Platte. Das heißt, sie kampieren unter
Brücken, in Parks, Unterführungen oder unterirdischen
Nahverkehrshaltestellen. Im Südwesten haben nach Zahlen des
Paritätischen Wohlfahrtsverbandes 23 000 Menschen keinen festen
Wohnsitz.

Wohlmann von der «Olga 46» bedauert, dass er seinen Klienten derzeit

nicht mehr bieten kann als Essen, Duschen und Kleiderwechsel. Der
Versuch, sie in den Räumen auf Abstand zu halten, misslang. «Viele
sind naiv und schütteln sich die Hände oder umarmen sich zur
Begrüßung», hat der Sozialarbeiter beobachtet. Dennoch sei ihm kein
Fall eines infizierten Obdachlosen bekannt. «Vielleicht weil sie doch
einen sehr begrenzten Radius haben», mutmaßt der 58-Jährige. Als
Vorsichtsmaßnahme darf immer nur einer ins Haus, um sich das
Care-Paket mit vier Scheiben Brot, Aufschnitt, Butter, Marmelade und
ein Getränk oder zu Mittag eine warmes Gericht wie Gulasch oder
Fischstäbchen abzuholen.

«Die Corona-Krise ist eine Katastrophe für Obdachlose», sagt Ursel
Wolfgramm. «Um Ansteckung zu vermeiden, wird Hilfe nur noch auf
Sparflamme angeboten», sagt die Vorstandschefin der Liga der freien
Wohlfahrtspflege Baden-Württemberg. Von Ehrenamtlichen getragene
Angebote hätten geschlossen, weil die Helfer sich in die eigenen vier
Wände zurückgezogen hätten. Auch in der Caritaseinrichtung «Olga
46»
sind die Freiwilligen vorsichtshalber nach Hause geschickt worden.

Ob die Notunterkünfte als Rückzugsort genügend Platz für alle böt
en,
sei fraglich, meint Wolfgramm. Dort sei es fast unmöglich
für Personal und Bewohner, den gebotenen Mindestabstand einzuhalten.
Sie sollten jetzt wenigstens auch tagsüber offen haben. Wenn bei
einer Ausgangssperre nicht genügend Plätze vorhanden wären, gäbe es

keine Aufenthaltsorte mehr als die Straße. Wolfgramm: «Wo sollen die
sonst hin?» Sie fordert ein Recht der Wohnungslosen auf
Einzelunterbringung in leerstehenden Hotels oder Pensionen während
der Corona-Krise.

Auch Oliver Schwarz, Mitarbeiter des «Schlupfwinkels» für Stuttgarter

Straßenkinder, sorgt sich um seine Schützlinge. Das sind im Jahr 250
bis 300 Menschen im Alter von 12 Jahren bis 25 Jahren, die dort mit
den elementarsten Dingen versorgt werden. Auch in dieser
Ausnahmesituation würde kaum jemand wieder von der Familie
aufgenommen. «Die haben kein Zuhause», sagt Schwarz. Auch für sie
fällt jetzt der Aufenthalt in der Zufluchtsstätte weg. «Wir laufen
auf Sparbetrieb, lassen immer zwei rein, die Wäsche waschen, duschen,
Kleider wechseln und Brote schmieren können», sagt Sozialarbeiter
Schwarz. Auch Schlafsäcke stellt der «Schlupfwinkel» bereit. Die
Zeiten für Streetworker seien schwierig, weiß Schwarz. Sie träfen die

jungen Menschen wegen des Versammlungsverbotes gar nicht mehr an den
gewöhnlichen Orten an. «Wir versuchen aber dran zu bleiben.»

Der Stillstand des öffentlichen Lebens zieht den Wohnungslosen laut
Liga den Boden unter den Füßen weg. Die Orte zum Verweilen
in Bibliothek, Volkshochschule und Einkaufszentren seien dicht.
Medizinische Busse seien nicht mehr in Betrieb, weil man sich dort zu
nahe komme. Körperhygiene sei erschwert, wenn wie in Heidelberg
öffentliche Toiletten geschlossen seien. Ein weiterer Gast der
Tagesstätte «Olga 46», Roland Breitner (Name von der Redaktion
geändert), bringt es auf den Punkt: «Das Leben ist noch viel
unbequemer als üblich.» Notunterkünfte scheut der Mittfünfziger mit

Mundschutz. «Die Infektionsgefahr ist zu groß.» Auch die Sicherheit

lasse dort zu wünschen übrig.

Durch den fehlenden Austausch mit den Helfern in den verschiedenen
Einrichtungen seien die Wohnungslosen von wichtigen Informationen
abgeschnitten, sagt Wolfgramm. Damit wenigstens ihre Besucher über
die Corona-Entwicklung auf dem Laufenden bleiben können, legt die
Tagesstätte «Olga 46» dem morgendlichen Care-Paket eine
Regionalzeitung bei. Menschen wie Müller oder Breitner können sich so
wenigstens über die neuesten Corona-Entwicklungen informieren.