Soziologe: «So eine rasende Entschleunigung ist einzigartig» Interview: Andreas Hummel, dpa

Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft halten
die Wissenschaft in Atem - nicht nur Mediziner, auch Soziologen wie
den renommierten Jenaer Forscher Hartmut Rosa. Die Gesellschaft könne
mit Unwägbarkeiten des Lebens ganz schlecht umgehen, konstatiert er.

Jena (dpa) - Die aktuelle Corona-Krise ist nach Einschätzung des
Jenaer Soziologen Hartmut Rosa für moderne Gesellschaften ohne
Vergleich. «So eine rasende Entschleunigung ist ganz und gar
einzigartig», sagte er mit Blick auf den Shutdown weiter Teile des
gesellschaftlichen Lebens im Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Zugleich biete die Situation die Chance, «noch einmal anders mit
sich, anderen und der Welt in Kontakt zu treten».

Frage: Solche Situationen wie aktuell sind eine Fundgrube für
Soziologen. Wie fällt ihre Analyse aus? 

Antwort: Die aktuelle Lage ist historisch ohne Vergleich. Was mir
besonders auffällt: Es kommt einem so vor, als hätte jemand von auß
en
riesige Bremsen ans Hamsterrad gelegt. Seit 250 Jahren ist unsere
Gesellschaft in einem Vorwärts- und Beschleunigungsmodus. Bisher gab
es da nur partielle und kurzfristige Einschränkungen, etwa nach dem
11. September oder als durch den Vulkan Eyjafjallajökull in Island
zeitweise der Flugverkehr eingestellt war. Wegen des Virus werden
jetzt aber weite Teile des gesellschaftlichen Lebens angehalten. So
eine rasende Entschleunigung ist ganz und gar einzigartig.

Frage: Weil sich das Virus offensichtlich rasant ausbreitet und wir
die Situation wieder in den Griff bekommen wollen?

Antwort: Die moderne Gesellschaft ist darauf geeicht, Dinge verfügbar
zu machen, unter Kontrolle zu kriegen und zu halten. Das letzte
Kapitel meines jüngsten Buches lautet «Die Rückkehr der
Unverfügbarkeit als Monster». Genau damit haben wir es im Moment zu
tun. Da kriecht plötzlich etwas über die Welt, das in jeder Hinsicht
unverfügbar ist: Wir sehen es nicht, wir haben es wissenschaftlich
nicht unter Kontrolle, medizinisch nicht im Griff, bekommen es
politisch nicht reguliert. Und da reagiert Gesellschaft so, wie ich
es beschrieben habe: Mit einem panischen Versuch, Verfügbarkeit
wiederherzustellen. Wir wollen die Kontrolle behalten. Und wir
stellen gerade fest, dass wir dabei an Grenzen stoßen.

Frage: Was hat das aus Ihrer Sicht für Folgen? 

Antwort: Dass wir die Bedrohung in Form des Virus nicht sehen, führt
zu einer massiven Entfremdung, zu einem Misstrauen gegenüber der
eigenen Wahrnehmung und gegenüber der Welt. Man weiß plötzlich nicht

mehr, ob der Mensch, der gerade vorbeiläuft, vielleicht ein tödliches
Virus in sich hat. Und man misstraut dem eigenen Körper: Was bedeutet
dieses Kratzen im Hals? Was mich interessiert - ich nenne das eine
Soziologie der Weltbeziehung - ist, wie wir auf uns selbst und auf
die Welt bezogen sind. Was gerade passiert, ist die massive
Untergrabung von Selbstwirksamkeitserfahrung und Vertrauen.

Frage: Letztlich begünstigt unser Lebensstil samt Globalisierung die
Ausbreitung solcher Viren und Unwägbarkeiten des Lebens.

Antwort: Das ist definitiv so. Dass sich das Virus so ausbreiten
kann, hängt damit zusammen, dass wir eine gewaltige globale
Weltreichweite realisiert haben. Nun werden wir räumlich plötzlich
auf unsere eigenen vier Wände zurückgeworfen. Der zeitliche Horizont
ist auch massiv eingeschränkt, weil keiner weiß, was in drei oder
vier Wochen ist. Das ist völlig unwägbar geworden. Das ändert die
Weise unseres In-der-Welt-Seins. Daran müssen wir uns erst einmal
gewöhnen.

Frage: Zugleich gibt es im Moment ermutigende Beispiele von
Nachbarschaftshilfe. Entstehen gerade neue Formen sozialer Kontakte,
obwohl wir unsere Sozialkontakte einschränken?

Antwort: Ich glaube, in dieser Super-Verlangsamung des Lebens liegt
die Möglichkeit, noch einmal anders mit sich, anderen und der Welt in
Kontakt zu treten. Ich nenne das Resonanzbeziehungen. Dabei geht es
mir aber nicht nur um andere Menschen, sondern um die Art und Weise,
wie wir uns auf das Leben, die Welt, auch die Objektwelt einlassen.
Man kann alte Tagebücher oder Briefe hervorholen oder wie in dem von
Ihnen erwähnten Beispiel mit Nachbarn noch einmal anders in Kontakt
treten. Der entscheidende Punkt ist die Haltung, mit der wir das tun:
Sie ist ergebnisoffen, es muss nichts Bestimmtes dabei herauskommen.