Risiken und Wirkung von Kontaktbegrenzung und Ausgangssperre Von Anne Pollmann, dpa

Eine Ausgangssperre scheint vorerst vom Tisch. Stattdessen gelten
seit Montag für Millionen Menschen in Deutschland strenge
Kontaktbeschränkungen. Welche Konsequenzen hat das?

Berlin (dpa) - Italien, Frankreich, Belgien, China, Spanien - viele
Länder haben sich im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus für
Ausgangssperren entschieden. In Deutschland gilt in weiten Teilen
eine abgemilderte Variante. Menschen dürfen weiterhin selbstbestimmt
vor die Tür. Allerdings maximal zu zweit - es sei denn, es sind
Angehörige aus dem gemeinsamen Haushalt. Die Einschränkungen sind
deutlich spürbar, haben weitreichende Folgen und werfen Fragen auf.

Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery ist vorerst zufrieden. Er
befürwortet die Einigung von Bund und Ländern. Es gebe einen
gravierenden Unterschied, durch eine Ausgangssperre mit staatlichen
Mitteln gezwungen zu werden und dem Kontaktverbot, «dass sie selber
mit Eigenverantwortung entscheiden, wann sie das Haus verlassen».
Montgomery hatte sich zuvor deutlich gegen einen Lockdown
ausgesprochen.

Welche Wirkung die einzelnen Maßnahmen auf die Ausbreitung des Virus
haben, kann derzeit niemand mit Sicherheit beantworten. Singapur und
Hongkong, teils auch Japan und Südkorea seien sehr erfolgreich gegen
die Ausbreitung des Virus vorgegangen, «vor allem über Beschränkung
und nicht über Ausgangsverbote», sagt Alena Buyx. Sie ist Professorin
für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Technischen
Universität München. Trotzdem bleibt die Datengrundlage dünn. Es
gelte Schritt für Schritt basierend auf Evidenz zu entscheiden. «Es
gibt im Moment keine 100 prozentige Sicherheit.»

Für ein schrittweises Vorgehen und Abwägen plädierte auch eine
Forschergruppe vom Imperial College London. Die Wissenschaftler rund
um Neil Ferguson haben basierend auf Modellen für Großbritannien und
die USA zu einer flexiblen Strategie geraten, in der Maßnahmen immer
wieder angezogen und gelockert werden - auch um zu verhindern, dass
sich der Ausbruch nur zeitlich verlagert.

«Solange nicht ein großer Teil der Bevölkerung immun ist, kann sich
das Virus ja nach wie vor ausbreiten», sagt Mirjam Kretzschmar von
der Universitätsmedizin Utrecht. «Sobald die Maßnahmen gelockert
sind, geht die Reproduktionszahl wieder auf den ursprünglichen Wert
zurück und die Ausbreitung verläuft wie vor den Maßnahmen. Das ände
rt
sich erst, wenn ein substanzieller Teil der Bevölkerung immun
geworden ist.»

Dass die Einschränkungen in vier Wochen aufgehoben werden, glaubt
auch Buyx nicht. Aber mit welchen Folgen? Die bisher getroffenen
Maßnahmen wirken in allen Lebensbereichen und führen zu umfassenden
Veränderungen. «Das sind drastische Freiheitseinschränkungen», die

«massive soziale und ökonomische Folgen» hätten, so Buyx.

«Ob die getroffenen Maßnahmen ausreichen, muss abgewartet werden»,
sagt Nico Dragano, Medizinsoziologe am Uniklinikum Düsseldorf. Die
Ausgangssperre sei nicht vom Tisch. Oberstes Ziel sei es, den Anstieg
der Fälle zu stoppen. Gleichzeitig müssten aber auch die
gesundheitlichen Folgen durch psychische und soziale Belastungen im
Blick behalten werden.

Welche sozialpsychischen Folgen eine komplette Ausgangssperre haben
kann, habe sich etwa in China gezeigt, erklärt Buyx. Dort sei die
Zahl der psychischen Erkrankungen angestiegen, außerdem habe die
häusliche Gewalt vor allem gegen Frauen und Kinder massiv zugenommen.
«Das sind schwere Kollateralfolgen und deswegen müssen wir diese
Einschränkungen mit Augenmaß einsetzen. Wir müssen immer wieder
fragen, welche Maßnahmen können wir wann und wie kontrolliert
zurücknehmen.»

«Wir müssen wissen, wie wir da wieder rauskommen», sagt auch Hajo
Zeeb, Professor für Epidemiologie an der Universität Bremen und
Forscher am Leibniz-Institut. Eine «riesige Bevölkerungsintervention»

nennt er die Maßnahmen in Deutschland. Es sei eine Fülle von
Maßnahmen durchgesetzt worden, nun müsse man offene Fragen klären,
etwa um die Dunkelziffer der Erkrankungen genauer bestimmen zu
können. Die Ergebnisse seien essenziell für die Entscheidung darüber,

«wie wir uns in Zukunft verhalten müssen. Wenn man das weiß, kann man

deutlich genauer mit den Ausbreitungsmodellen arbeiten.»

Genauso wichtig sei aber auch eine begleitende Sozialpolitik. Die
Krise treffe Menschen in unterschiedlichen Graden - und besonders
stark jene, die bereits vorher in prekären Lagen steckten. «Man muss
ihnen die wirtschaftliche Angst nehmen, das hat einen ganz massiven
Einfluss auf die Gesundheit», so Zeeb.

«Bei Beschäftigten im Niedriglohnsektor, bei Selbstständigen und
Unternehmern kann sich die Lage schnell zuspitzen», sagt auch Klaus
Hurrelmann, Professor für Public Health and Education an der Hertie
School, «weil ein reales Risiko für einen wirtschaftlichen Absturz
und materielle Not entsteht». Depression, Angst, Schlafstörungen,
innere Unruhe und Panikattacken könnten die Folge sein.

«Es ist nicht so, dass eine kurze Quarantäne automatisch negativ auf
die Gesundheit wirkt», sagt hingegen Nico Dragano. «Wenn Menschen den
Sinn verstehen, geht das nicht unbedingt mit einer psychischen
Belastung einher.» Auch um das Risiko von gesundheitsschädlichem
Bewegungsmangel müsse man sich bei einer Ausgangsbeschränkung von ein
paar Wochen vorerst keine Gedanken machen.

«Diese Problematik wird uns mit Sicherheit bis zum Ende des Jahres
begleiten», prognostiziert Montgomery, «aber wir werden auch
Mechanismen entwickeln, wie wir damit umgehen.» Der
Weltärztepräsident ist zuversichtlich: «Der Mensch ist zum Glück ei
n
sehr lernfähiges und sehr adaptives Wesen.»