«Leben retten»: Drastische Maßnahmen im Kampf gegen Coronavirus

Gähnende Leere auf Deutschlands Straßen - und nun verhängt die
Politik bundesweit zusätzliche einschneidende Maßnahmen im Kampf
gegen das Coronavirus. Eine Ausgangssperre gibt es aber nicht. Die
Kanzlerin richtet erneut einen dringenden Appell an die Bevölkerung.

Berlin (dpa) - Bund und Länder wollen die Ausbreitung des Coronavirus
mit weiteren und beispiellosen drastischen Beschränkungen
verlangsamen. In der Öffentlichkeit werden Ansammlungen von mehr als
zwei Personen in ganz Deutschland für zunächst zwei Wochen verboten -
ausgenommen werden Angehörige, die im eigenen Haushalt leben. Wer
sich nicht an die Regeln hält, dem drohen Strafen. Restaurants müssen
schließen, ausgenommen ist die Lieferung von Speisen für zu Hause.
Friseurläden werden dicht gemacht. Auf diese neuen einschneidenden
Maßnahmen einigten sich Kanzlerin Angela Merkel und die
Ministerpräsidenten der Länder in einer Telefonkonferenz am Sonntag.

Merkel und die Regierungschefs betonten: «Wir müssen alles dafür tun,

um einen unkontrollierten Anstieg der Fallzahlen zu verhindern und
unser Gesundheitssystem leistungsfähig zu halten.» Die Beschränkungen

sollen eine mindestens zwei Wochen gelten. Eine Ausgangssperre, von
der in den vergangenen Tagen immer wieder die Rede war, verhängt die
Politik ausdrücklich nicht.

Nach einer Pressekonferenz von Merkel in Berlin wurde bekannt, dass
die Kanzlerin sich nun selbst in häusliche Quarantäne begeben muss.
Sie sei nach ihrem Presseauftritt am Abend unterrichtet worden, dass
sie am Freitag zu einem Arzt Kontakt hatte, der mittlerweile positiv
auf das Coronavirus getestet worden sei, teilte ihr Sprecher Steffen
Seibert mit. «Auch aus der häuslichen Quarantäne wird die
Bundeskanzlerin ihren Dienstgeschäften nachgehen.»

Merkel hatte zuvor erneut einen dringenden Appell an die Bevölkerung
gerichtet, die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Familie auf
ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren. «Bitte ziehen Sie alle
mit», sagte die Kanzlerin. «Zeigen Sie Vernunft und Herz.»

Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland habe
verstanden, worauf es nun ankomme, sagte Merkel. Jeder könne seinen
Teil dazu beitragen, die Verbreitung des Virus aufzuhalten. Es
berühre sie sehr, das sich so viele an die Regeln hielten, so zeigten
die Menschen Fürsorge für Ältere und Vorerkrankte: «So retten wir
Leben.»

Das Virus breite sich weiter aus. Es komme nun darauf an, die
Kankenhäuser auf höhere Fallzahlen vorzubereiten und ältere sowie
vorerkrankte Menschen zu schützen, sagte Merkel. Deswegen werde das
öffentliche Leben nun so weit herunterfahren wie es vertretbar sei.

Verschärfte Ausgangsbeschränkungen in den einzelnen Ländern wurden am

Sonntag weitgehend eingehalten. Die Bürger werden laut Beschluss
angehalten, in der Öffentlichkeit einen Mindestabstand von mindestens
1,5 Meter einhalten. Der Weg zur Arbeit, zur Notbetreuung, Einkäufe,
Arztbesuche, Teilnahme an Sitzungen, erforderlichen Terminen und
Prüfungen sollen weiter möglich sein - genau so wie Hilfe für andere,

individueller Sport und Bewegung an der frischen Luft.

Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist laut Beschluss künftig aber
nur noch alleine, «mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden
Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen
Hausstands gestattet».

Gruppen feiernder Menschen auf öffentlichen Plätzen, aber auch in
Wohnungen sowie privaten Einrichtungen seien inakzeptabel. «Verstöße

gegen die Kontakt-Beschränkungen sollen von den Ordnungsbehörden und
der Polizei überwacht und bei Zuwiderhandlungen sanktioniert werden»,
wie es in dem Beschluss heißt.

Eine Höhe der Strafen ist nicht genannt. Nordrhein-Westfalens
Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sagte, es könnten Strafen bis
zu 25 000 Euro verhängt werden. Es gelte eine «Null-Toleranz-Politik

gegen Regelbrecher», sagte Laschet.

Cafés, Restaurants und Kneipen sind laut Beschluss fortan bundesweit
zu schließen. Die Lieferung und das Abholen mitnahmefähiger Speisen
für den Verzehr zu Hause bleibt erlaubt. Geschlossen werden müssen
Friseure, Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios und ähnliche
Dienstleistungsbetriebe für Körperpflege. In diesem Bereich sei eine
körperliche Nähe unabdingbar. Medizinisch notwendige Behandlungen
blieben weiter möglich.

Eine generelle Schließung von Geschäften oder Produktionsstätten ist

nicht vorgesehen. «In allen Betrieben und insbesondere solchen mit
Publikumsverkehr ist es wichtig, die Hygienevorschriften einzuhalten
und wirksame Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter und Besucher
umzusetzen», so Bund und Länder. Die italienische Regierung hatte
wegen der dramatischen Ausbreitung des Virus die gesamte
nicht-lebenswichtige Produktion geschlossen.

In der Einigung mit den Ländern über neue massive Einschränkungen
sieht Merkel weitgehende Einmütigkeit. Das «Grundgerüst» der
Maßnahmen der einzelnen Länder ähnelten sich sehr. Manches werde in
den Ländern aber eben noch spezifisch für die jeweilige Situation
geregelt, sagte sie und verwies darauf, dass Länder wie Bayern oder
das Saarland Grenzen zu Hochrisikoregionen der Nachbarn Frankreich
oder Italien haben.

Bayern will das von Bund und Ländern vereinbarte Ansammlungsverbot
für mehr als zwei Personen allerdings nicht übernehmen, wie die
Deutsche Presse-Agentur aus der bayerischen Staatskanzlei erfuhr. Im
Freistaat würden weiterhin die bereits am Freitag von der
Staatsregierung beschlossenen Regelungen gelten. Demnach darf
weiterhin nur gemeinsam an die frische Luft, wer zu einem Hausstand
gehört.

In Deutschland waren bis Sonntag mehr als 24 100 Infektionen mit dem
neuen Coronavirus bekannt geworden. Mehr als 90 mit Sars-CoV-2
Infizierte sind bislang bundesweit gestorben. Die neuen strengen
Regeln sollen eine schnelle Ausbreitung verhindern, so dass
insbesondere genügend Intensivbetten in Krankenhäuser für
schwerkranke Infizierte frei bleiben.

Bei den Beratungen am Sonntag gab es dem Vernehmen nach heftigen
Streit zwischen Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und
NRW-Regierungschef Laschet. Laschet habe Söder demnach massiv
attackiert, weil dieser «ohne Absprache» Ausgangsbeschränkungen für

Bayern verordnet hatte. Söder habe daraufhin damit gedroht, die
Schalte zu verlassen. Dies berichtete auch die «Bild»-Zeitung.

Bayern sei über den Verlauf «irritiert», erfuhr die dpa aus
bayerischen Regierungskreisen. Laschet habe sich bisher in der
Debatte immer sehr zurückgehalten und gezögert, auch als es jüngst um

die Schließung von Schulen und Kindergärten gegangen sei. Man vermute
daher ein anderes Motiv, es gehe Laschet wohl mehr um seine
persönlichen Ambitionen als um die Corona-Krise, hieß es.