Ein Tod alle sechs Minuten - Madrileños proben die Corona-Flucht Von Emilio Rappold, dpa

Madrid hat bereits knapp acht Prozent aller Corona-Todesfälle
weltweit. Die Intensivstationen sind hoffnungslos überfüllt. Bei den
Bewohnern der Region wird die Angst von Tag zu Tag größer. In anderen
Regionen Spaniens sorgen die Hauptstädter für Unmut.

Madrid (dpa) - Alle sechs Minuten wird in Madrid ein
Coronavirus-Infizierter tot aus dem Krankenzimmer getragen. Die
Intensivstationen der spanischen Hauptstadt sind inzwischen
hoffnungslos überfüllt, das Personal ist total überfordert. Einige
brechen sogar bei der Arbeit in Tränen aus, wie «El País» am
Wochenende berichtet. Die renommierte Zeitung titelt auf Seite Eins
in großen Lettern mit der Aussage einer Ärztin: «Das ist der Krieg
unserer Generation.»

«Wir haben nicht einmal Zeit zum Pinkeln», klagt ein Mediziner im
Vorort Getafe. Mehr als zehn Prozent aller Infizierten sind Ärzte,
Pfleger und Sanitäter. Experten warnen, bei Nichtverschärfung der
Ausgangssperre werde es schon in den nächsten Tagen einen Kollaps des
Gesundheitssystems geben - bis um den «25. März herum», behaupten
sie.

Die Lage in der Region um Madrid wird mit jedem Tag dramatischer.
Dort durchbricht die Zahl der Toten am Sonntag die 1000er-Marke. Rund
acht Prozent, also knapp ein Zehntel aller Todesopfer weltweit.
Ähnlich schlimm ist derzeit die Lage sonst nur in der italienischen
Provinz Bergamo. Die sich häufenden Horrornachrichten - darunter eine
regionale Sterblichkeitsrate von über zehn Prozent - versetzen immer
mehr Madrileños in Panik. Trotz strikter Ausgangssperre versuchen
Familien immer wieder, aus dem Corona-Hotspot zu fliehen.

Fernando steigt am Samstag im Stadtviertel Chamberí gegen ein Uhr
morgens mit Frau und Kind (6) ins Auto. «Wir haben lange überlegt,
aber jetzt versuchen wir, zum leerstehenden Haus der Urgroßeltern
meiner Frau zu fahren», sagt der 35 Jahre alte Anwalt, bevor er den
letzten Koffer verstaut und losfährt. Ihr Ziel in einer kleinen
Gemeinde rund 100 Kilometer westlich von Madrid erreicht die Familie
allerdings nicht. «Wir wurden von der Polizei an einer
Autobahnkontrolle zurückgeschickt», erzählt er am Sonntag. Gibt er
auf? «Nein, nächstes Mal versuchen wir es anders.» Dabei drohen bei
Zuwiderhandlung und vor allem bei Widerstand gegen die Staatsgewalt
Strafen von bis zu 600 000 Euro - und sogar Haft.

Fernando ist in Madrid kein Einzelfall. Laut einem Bericht des
Fernsehsenders Telemadrid startete deshalb die Polizei eine Jagd auf
Gesetzesbrecher. Die Kontrollen seien am Wochenende an den Ausfahrten
der Stadt verstärkt worden. Die für solche Kontrollen zuständigen
Sicherheitsbehörden, die Nationalpolizei und die paramilitärische
Polizeieinheit Guardia Civil, berichten von Dutzenden Festnahmen und
Tausenden von Strafanzeigen. Das Innenministerium betont erneut: Es
sei unter der seit einer Woche geltenden Ausgangssperre nicht
erlaubt, zur Ferienwohnung am Meer oder zum Haus der Familie auf dem
Lande - die viele, auch nicht betuchte Madrilenen haben - zu fahren.

Nicht nur die erschreckenden Zahlen machen die Madrilenen mobil. Es
gibt im Fernsehen Bilder von schluchzenden Ärzten, die Tränen in den
Augen haben. Man sieht auf dem Bildschirm, wie das Messezentrum Ifema
und auch Hotels zu Krankenhäusern umfunktioniert werden. Zum
Transport der Kranken werden in Madrid inzwischen auch Linienbusse
eingesetzt. Viel Aufsehen erregt ein Bericht von «El País», es gebe
nun einen «ethischen Leitfaden», nach dem Ärzte im Falle eines
Mangels an Intensivbetten unter anderem anhand der Lebenserwartung
entscheiden sollten, wer bevorzugt behandelt werden solle.

«Das alles macht viel Angst», sagt Fernandos Frau. Für diese Angst
der Madrileños haben die Sicherheitskräfte und die meisten Menschen
und Behörden in den Fluchtzielorten allerdings wenig bis gar kein
Verständnis. Enric Morera, Parlamentspräsident der Region Valencia,
wirft den Hauptstädtern erbost vor, das Virus zu exportieren.

Die Klage der Bürgermeisterin der Ortschaft San Martín de
Valdeiglesias rund 70 Kilometer westlich von Madrid macht das Problem
der Flucht aus dem Krisenepizentrum sehr deutlich: «Wir haben hier
nur einen Arzt für mehr als 8000 Menschen. Wenn unsere Einwohnerzahl
sich plötzlich verdoppelt, wird die Gesundheit in Gefahr gebracht.»