IOC massiv unter Druck - Bach erwägt alternative Olympia-Szenarien Von Andreas Schirmer, dpa

Einen kompletten Ausfall der Olympischen Spiele in Tokio schließt
IOC-Präsident Thomas Bach weiter aus. Ein Umdenken aber räumt er ein.
Mehrere Szenarien für die Sommerspiele sind möglich. Der Druck auf
die Olympia-Macher wird immer gewaltiger.

Frankfurt/Main (dpa) - Unter dem beispiellosen Druck der weltweit
wachsenden Kritik steuert Thomas Bach um. Der IOC-Präsident ist von
der Strategie des sturen Festhaltens an der planmäßigen Austragung
der Tokio-Spiele abgerückt. Inzwischen hat der Chef des
Internationalen Olympischen Komitees eingeräumt, auch verschiedene
Szenarien in Betracht zu ziehen. Einen Totalausfall der Sommerspiele
schließt er aus.

«Sie können nur dann verantwortlich handeln, wenn Sie verlässliche
und klare Entscheidungsgrundlagen haben», sagte der 66 Jahre alte
Fecht-Olympiasieger von 1976 im SWR-Interview am Samstag. Mehrere
Szenarien wären bei einer wohl immer näher rückenden Absage denkbar:

Die Verschiebung der vom 24. Juli bis 9. August geplanten
Tokio-Spiele auf den Herbst, auf Sommer 2021 oder gar auf 2022.

Am wahrscheinlichsten dürfte die Verlegung um ein Jahr sein, was
angesichts des bereits fixierten Terminkalenders im Weltsport auch
eine monumentale Entscheidung nie da gewesener Dimension wäre. Im
Sommer 2021 sind zum Beispiel die Weltmeisterschaften im Schwimmen in
Fukuoka/Japan und die der Leichtathleten in Eugene/USA vorgesehen.
Gegen 2022 spricht, dass in dem Jahr die Olympischen Winterspiele im
Februar und die Fußball-WM im November und Dezember stattfinden.

«Es wäre besser gewesen, wenn man von Anfang an gesagt hätte, dass
man auch nach Alternativen sucht», sagte Max Hartung, Vorsitzender
des Vereins «Athleten Deutschland» der Deutschen Presse-Agentur. Der
frühere Fecht-Europameister hat entschieden, nicht an Tokio-Spielen
teilzunehmen, wenn sie doch im Sommer stattfinden sollten. Mit diesem
Schritt wolle er ein Zeichen setzen. Ihm «breche es das Herz»
angesichts der Tragweite: «Ich hätte heulen können.»

Dagegen schließt Hürdensprinterin Cindy Roleder einen Tokio-Start
nicht aus. «Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich auf gar
keinen Fall hinfahren würde», sagte die Leichtathletin vom SV Halle
der dpa. «Dann würde ich nicht auf Biegen und Brechen versuchen,
irgendwie weiter zu trainieren und fit zu bleiben.»

Der Deutsche Olympische Sportbund informierte am Samstagabend rund
200 Topsportler in einer Video-Konferenz über den Stand der
Olympia-Debatte. Seine Athleten, die qualifiziert sind oder es noch
schaffen könnten, forderte der DOSB auf, sich in einer Abstimmung für
oder gegen die planmäßige Austragung der Sommerspiele auszusprechen.

«Der DOSB macht es sehr gut», lobte Hartung die Dachorganisation und
erklärte zur Abstimmung: «Es ist das klare Bekenntnis da, das Votum
der Athleten mit in die Position des DOSB zu den Spielen
einzubeziehen. Das ist einmalig auf der Welt.» Auch vom IOC würde er
sich wünschen, mehr «mit offenen Karten» zu spielen.

Stattdessen hielten IOC und Gastgeberland an den olympischen Ritualen
der Spiele-Vorbereitung fest. «Mit einer Absage des Fackellaufs hätte
man ein Zeichen setzen können, dass man während der Pandemie an der
Seite der Menschen steht», kritisierte Hartung. Ungeachtet davon
kamen am Samstag mehr als 55 000 Menschen zum Bahnhof Sendai im
Nordosten von Japan, um das dort angekommene Olympische Feuer in
Empfang zu nehmen. Dabei hatte die Regierung die Öffentlichkeit
aufgefordert, große Versammlungen zu vermeiden.

Zu einer Verschiebung des größten Sportereignisses der Welt hat auch
die internationale Athletenvereinigung «Global Athlete» das IOC
aufgefordert. «Wenn sich die Welt zusammenschließt, um die
Verbreitung des Covid-19-Virus zu begrenzen, muss das IOC das Gleiche
tun», hieß es in einer Mitteilung der Organisation vom Sonntag.

Gegen einen sofortigen Beschluss des IOC ist Bahnradfahrer Maximilian
Levy: «Alle schreien jetzt nach der Absage.» Er hoffe, das sich das
IOC nicht dem Druck beuge, sondern sich «die nötige Zeit» für diese

schwerwiegende Entscheidung nehme. «Wenn man jetzt absagt - da
brechen Welten zusammen», so der Olympia-Medaillengewinner.

Die Beeinträchtigung der Olympia-Vorbereitung und Qualifikationen
sind ohnehin massiv. In den Ländern sind zudem die Einschränkungen
der Trainingsmöglichkeiten und die der Dopingkontrollen der besten
Athleten der Welt höchst unterschiedlich - und damit die
Chancengleichheit bei einer Austragung der Tokio-Spiele im Sommer
nicht gewährleistet. «Es ist klar, dass es eine Verzerrung des
Wettbewerbs geben wird», sagte der Nürnberger Pharmakologe Fritz
Sörgel bei Sport1. Der Anti-Doping-Experte rechnet erst im kommenden
Jahr wieder mit einem regulären Kontrollsystem.

Deshalb erscheint die Erklärung der Welt-Anti-Doping-Agentur, auch
angesichts des «globalen Notstandes» alles tun zu wollen, um die
sauberen Athleten zu schützen, nur wie eine Durchhalteparole.
«Covid-19 hat alle Akteure der Dopingbekämpfung, einschließlich der
Wada, gezwungen, die Art und Weise, wie die tägliche Arbeit
durchgeführt wird, anzupassen», sagte Wada-Präsident Witold Banka.
Der zweimalige Ironman-Weltmeister Patrick Lange befürchtet hingegen,
«dass schwarzen Schafen jetzt Tür und Tor geöffnet» sei, wie der
Hesse der «Frankfurter Rundschau» sagte.

Bei der Hängepartie um die Sommerspiele sieht Sörgel nun vor allem
die Weltgesundheitsorganisation WHO in der Pflicht. «Das IOC und die
Japaner werden es von sich aus nicht übers Herz bringen. Schon
deshalb, weil sie bei einer Absage riesige Schadenersatzforderungen
hätten», erläuterte er. «Wenn es die WHO untersagt, sieht es anders

aus - die Versicherungen könnten greifen.» Das IOC ist bei einem
Olympia-Ausfall mit bis zu 1,7 Milliarden Euro versichert.

Die Weltgesundheitsorganisation aber will von sich aus nicht die
Absage der Olympischen Spiele fordern. Dies sei auch nicht die
Aufgabe der WHO, sagte ein Sprecher am Sonntag auf dpa-Anfrage. «Jede
Entscheidung, ein geplantes internationales Ereignis abzuändern,
sollte auf einer sorgfältigen Bewertung der Risiken (...) beruhen.»