Lagerkoller oder Chance? Wie man in Isolation lebt Von Marco Krefting, dpa

Steigt die Scheidungsrate oder bekommen wir in neun Monaten einen
Babyboom? Die Corona-Krise, wochenlanges Zuhausebleiben und dazu noch
der Verzicht auf Kontakte werden nicht spurlos an uns vorübergehen.
Welche Spuren das sind, daran scheiden sich die Geister.

München/Münster (dpa) - Zwei Wochen, drei Wochen, vier Wochen zu
Hause, mit den immerselben Menschen - oder ganz allein. Vielleicht
mal frische Luft schnappen, aber möglichst nicht mit anderen
in Kontakt kommen. Die Corona-Krise wird die Menschen verändern.

FAMILIEN stehen in vielfacher Hinsicht vor Herausforderungen, wie die
Paar- und Familienpsychologin Anne Milek von der Universität Münster
sagt. «Das Stresslevel ist ungleich höher, weil der Alltag nicht mehr
so eingespielt ist.» Zur permanenten Betreuung der Kinder kämen
vielleicht Existenzängste und Angst vor einem Jobverlust hinzu.
Selbst wer gesund sei, sorge sich um Alte und Kranke. Auch wenn der
Zeitraum noch überschaubar sei - «Urlaub ist das sicher nicht».

Wichtig sei, Verständnis für die Angst anderer zu haben, sagt Peter
Zehentner. Er ist unter anderem Leiter des Krisen-Interventions-Teams
München beim Arbeiter-Samariter-Bund. «Angst schaltet Vernunft aus,
sie ist kaum steuerbar und rational nicht erklärbar.» Friedvolle
Menschen würden plötzlich aggressiv. Hier könne man versuchen, den
Erhalt des Wichtigsten in den Fokus zu rücken: «Du bist noch gesund,
das ist gut. Und alles andere ist erstmal Luxus.»

Anke Lingnau Carduck, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für
Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie, sagt: «Die
Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie setzt die gesamte Welt
unter Stress, und das wird auch in den Familien spürbar». So steige
innerfamiliärer Stress um Themen wie Spielekonsolen und Fernsehen.
Doch die Forschung zeige, dass die meisten Familien angesichts von
Krisen und Widrigkeiten innere Widerstandskraft entwickelten.

Sie berichtet von Lösungsansätzen: «Ein erster Schritt besteht dari
n,
die Situation als einen vorübergehenden Zustand zu sehen und die
Perspektive wieder zu erweitern.» So sollte im TV auch Lustiges
gesehen werden. Familien sollten miteinander die Herausforderung von
Langeweile annehmen und kreativ zu bewältigende Aufgaben für jedes
Mitglied erfinden: «Jetzt ist eine gute Zeit zum Erlernen neuer
Fähigkeiten, altersgemäß im häuslichen Miteinander», sagte sie.
«Vielleicht kochten nach der Corona-Krise ja neuerdings die Kinder
leidenschaftlich gerne, der Papa hat das Malen für sich entdeckt und
die Mama hat Spaß und Ehrgeiz an einem digitalen Spiel gefunden?»

Ähnlich äußerte sich jüngst der Regensburger Neurowissenschaftler
Volker Busch im Radiosender Bayern 3: «Vielleicht ist es eine Chance,
wieder zurückzuentdecken, dass man gemeinsam am Tisch ein
Gesellschaftsspiel spielen kann.» Das zwangsweise Zusammenrücken
könne eine Chance sein, Gemeinschaft wiederzuentdecken «und
vielleicht dabei auch zu spüren, dass wir dafür die Tennishalle und
das Fitnessstudio und das Kino eigentlich gar nicht brauchen», sagte
der Psychologe von der Uni Regensburg.

Von einer Chance spricht auch Sozialpsychologin Elisabeth Kals von
der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt: «Wichtig ist, das

positiv zu nutzen.» Kinder freue es, wenn Eltern zu Hause seien. Die
müssten aber mit guten Beispiel vorangehen und nicht die ganze Zeit
daddeln. Die Familie könne sich überlegen, ob sie Nachbarn helfen
kann. «Kinder können jetzt lernen, wie man mit Herausforderungen
umgeht.» Der Zusammenhalt zwischen den Generationen könnte intensiver
werden. Kals spricht von einem «Lackmustest für die Gesellschaft».

PAARE könnten angesichts der Lage ebenfalls über sich hinauswachsen,

ist Milek überzeugt: «Kleine Streits fallen hinten runter.» Also do
ch
kein Lagerkoller? Milek vermutet, dass die Scheidungsrate in den
Keller geht. «In einer ökonomischen Krise, in Unsicherheit hält man
zusammen.» Wer das Tal nicht überwinde, verschiebe die Scheidung auf
später. Anders sieht es Julia Scharnhorst, Vizepräsidentin des
Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen: «In solchen
Zeiten besteht definitiv eine höhere Trennungsgefahr.» Das kenne man
von Weihnachten. Wenn man so viel Zeit miteinander verbringt, falle
zum Beispiel schneller auf, wenn die Werte nicht zueinander passen.

Professorin Kals meint: «Wer wenige Wochen nicht gemeinsam gemeistert
kriegt, sollte sich hinterfragen, was man dann zusammen schaffen
will.» Da sei die Überlegung hilfreich, was in den ersten Wochen der
Verliebtheit anders war. Und auch Busch meint: «Ich glaube, dass die
Ursache dafür, dass sich Menschen jetzt scheiden, nicht die letzten
zwei Wochen waren. Dann war schon was anderes kaputt.»

In eine völlig andere Richtung gehen Spekulationen über einen
Babyboom in einigen Monaten, wie es ihn etwa infolge des Schneechaos
gegeben haben soll, das Ende 2005 das Münsterland tagelang lahmlegte.
So hamstern Franzosen angeblich derzeit statt Nudeln lieber Kondome.

Wer aktuell durch Grenzschließungen getrennt ist, kann zumindest
technische Möglichkeiten nutzen. «Die Digitalisierung kommt uns sehr

zu Gute, um nicht völlig abgeschnitten zu sein», so Milek.
Telefonieren und skypen helfe den derzeit voneinander getrennten
Menschen, «eine echt interessierte Rückkopplung, Trost und Zuspruch
zu erfahren, daheim Erlebtes teilen zu können», sagt Lingnau Carduck.

SINGLES schützten digitale Medien ebenfalls vor Einsamkeit, sagt sie.
Und wenn man vielleicht eh schon psychisch labil ist? Sozialpädagoge
Zehentner rechnet sogar mit einer sinkenden Zahl an Suiziden. «Die
Corona-Krise lenkt die Leute ab.» Die Betroffenen würden oftmals aus

ihren Gedanken auf den Suizid hin rausgeholt. «Es kann sogar sein,
dass es Suizidalen und Depressiven aktuell bessergehen kann», so
Zehentner. «Das haben wir auch während der Fußball-Weltmeisterschaft

in Deutschland erlebt.» Nichtsdestotrotz könne die Situation zum
Beispiel bei Menschen mit Ängsten zu massiven Problemen führen.

Ähnlich rät Kals ganz allgemein: «Nicht im eigenen Saft schmoren,
sondern erkennen, welche großen Themen wir haben, das ist eine
Entwicklungschance.» Und Busch sagt: «Es kommt drauf an, wie wir es
gestalten - auch wenn wir dafür mal ein paar Wochen die Haustür
verschließen müssen, kann das Leben auf diese Weise weitergehen.»