Ein zufälliger Urmoment der Medizin - 125 Jahre Röntgenstrahlung Von Angelika Resenhoeft, dpa

Ein Professor experimentiert in seinem Büro in Würzburg im Dunkeln.
Was Wilhelm Conrad Röntgen vor 125 Jahren entdeckt, revolutioniert
die moderne Medizin. Heute reicht diese Wirkung bis ins All.

Würzburg (dpa) - Dieser Urmoment der modernen Medizin war ein Zufall.
Es ist Freitag, spät abends. Wilhelm Conrad Röntgen experimentiert
mit elektrischen Entladungen in einer nahezu luftleer gepumpten
Glasröhre (Kathodenröhre). Sein Laboratorium an der Universität
Würzburg ist dabei fast dunkel. Nur die allgemein bekannten und mit
bloßem Auge sichtbaren Leuchterscheinungen in der Röhre erhellen den
Raum schwach. Röntgen umhüllt die Röhre mit schwarzem Karton. Und
beobachtet, dass sich ein entfernt stehender Leuchtschirm aufhellt.
Mehr noch: Als er seine Hand irgendwann später - er verbrachte etwa
sechs Wochen nahezu Tag und Nacht im Labor - zwischen Röhre und
Leuchtschirm hält, sieht Röntgen auf dem Schirm den Schatten seiner
Handknochen.

«Es weiß keiner, wie es wirklich passiert ist», erzählt Roland
Weigand vom Röntgen-Kuratorium Würzburg. Denn Röntgen - geboren am
27. März 1845 in Lennep, heute ein Stadtteil Remscheids, gestorben am
10. Februar 1923 in München - habe per Testament verfügt, dass all
seine Aufzeichnungen nach seinem Tod verbrannt werden. Der Verein hat
die berühmte Wirkungsstätte des Physikers mit Originaleinrichtung und
-geräten wieder entstehen lassen - sogar Röntgens Schreibtisch steht
noch in seinem alten Labor in den Uniräumen.

Sicher ist: Irgendeine Strahlung musste in der Röhre entstanden sein,
drang durch das Glas, den Karton und die Luft, um schließlich die
Moleküle im Leuchtschirm zum Leuchten anzuregen. Die Knochen
schatteten die Strahlung ab. Röntgen nannte sie X-Strahlen. Als
gewissenhafter Forscher untersuchte er das Phänomen zunächst hinter
verschlossener Tür. Aber noch Ende 1895 veröffentlicht er seine
Untersuchung in seinem berühmten Artikel «Über eine neue Art von
Strahlen», nachdem er sich seiner Beobachtungen sicher war. Das
während dieser frühen Forschung entstandene Foto von den Handknochen
seiner Frau Bertha mitsamt Ring wird zu einer Ikone der Wissenschaft.

Weil Kathodenröhren damals in vielen Labors stehen, werden die
spektakulären Ergebnisse international rasch bestätigt. «Es ging wie

ein Lauffeuer um die Welt», sagt der Präsident der Universität
Würzburg, Alfred Forchel. Die ursprüngliche Skepsis weicht schnell
einem «Röntgenfieber» - zu faszinierend ist die neue Möglichkeit, i
n
den Körper und verschiedene Gegenstände zu blicken. Ein kurzer Film
von 1897 zum Beispiel zeigt ein flirtendes Paar, das mithilfe einer
Röntgenkamera zu turtelnden Skeletten wird. Später stehen in
Schuhläden kleine Röntgenapparate, um zu schauen, ob die Füße
tatsächlich gut in die neuen Schuhe passen.

Röntgenstrahlen sind extrem kurzwellige, energiereiche
elektromagnetische Strahlen, die viele Materialien durchdringen und
damit durchleuchten können. Sie sind für das Auge nicht sichtbar. Auf
einem Röntgenbild sind Knochen gut zu erkennen, Weichteile dagegen
nicht. In der Technik lassen sich mit ihnen Werkstoffe prüfen, im
Labor die Struktur von Kristallen analysieren. Röntgenteleskope im
Weltraum enthüllen energiereiche, kosmische Prozesse etwa bei
Schwarzen Löchern.

Die Entdeckung vor 125 Jahren führte zu einem gänzlich neuen Zweig
der Medizin, der Radiologie. Ungezählten Menschen hat das Verfahren
bisher geholfen. Röntgen erhielt 1901 den ersten Nobelpreis für
Physik. Und schon 1905 hieß es beim Kongress der Röntgen-Vereinigung
zu Berlin: «In dieser vervollkommneten Weise sind die
Röntgenstrahlen, (...), in allen Spezialfächern der
Menschenheilkunde, (...) ein unersetzliches und unentbehrliches
Hilfsmittel geworden.» Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Aus der medizinischen Diagnostik sind Röntgenstrahlen nicht mehr
wegzudenken. Doch sie revolutionierten auch viele andere Bereiche der
Forschung. «Die Doppelhelix-Struktur der DNA ist mit Röntgen-Beugung
aufgelöst worden», sagt Ralph Claessen, Leiter des Lehrstuhls für
Experimentelle Physik IV an der Uni Würzburg. «Das ist für mich ein
Meilenstein der Wissenschaft.»

Genforschung und mittlerweile sogar Gentherapie sind erst dadurch
möglich geworden, dass der Aufbau des Erbgutträgers DNA (englisch und
abgekürzt für Desoxyribonukleinsäure) verstanden ist - die Struktur
gleicht einer in sich gedrehten Strickleiter, deren Sprossen jeweils
aus zwei Bausteinen bestehen. Aber auch die Pharmaindustrie macht
sich die Strahlen zunutze, etwa bei der Entwicklung neuer
Medikamente, wie Claessen erklärt. Denn mit hochintensiven
Röntgenstrahlen lassen sich auch Viren entschlüsseln.

Indes: Viele der ersten Anwender haben durch die starke Strahlung der
Geräte in der Anfangszeit schwere Schäden davongetragen - sie wussten
nicht um die Gefahr der Strahlung für Gewebe und Erbsubstanz. Ein
Team um Gerrit Kemerink von der Abteilung für Radiologie und
Nuklearmedizin des Maastricht University Medical Center schätzt nach
seiner historischen Recherche zu den früheren Strahlendosen im
Journal «Insights into Imaging» (Bd. 10, 39, 2019), dass die Dosis
für eine Untersuchung des Beckenknochens seither etwa um das
400-Fache zurückgegangen ist.

Thorsten Bley arbeitet am Universitätsklinikum Würzburg täglich mit
Röntgenstrahlen. Der Direktor des Instituts für Diagnostische und
Interventionelle Radiologie berichtet von einer rasanten technischen
Entwicklung etwa bei der Computertomographie. Anfang der 2000er Jahre
sei die Strahlendosis bei Herzuntersuchungen weitaus höher gewesen
als heute. «Damals wurden bis zu 20 Millisievert für ein Koronar-CT
angewendet», erzählt er, mittlerweile seien es 0,3 bis 0,5
Millisievert. Zum Vergleich: Durch natürliche Strahlung beträgt die
mittlere Strahlenbelastung der Menschen in Deutschland jährlich im
Schnitt 2,1 Millisievert.

Heute ist die Aufnahme eines Röntgenbildes meist Routine. Die
Fortentwicklung der Technik ist aber nicht abgeschlossen, wie der
Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft, Gerald Antoch, sagt. Vor
125 Jahren gab es verwaschen aussehende Schwarz-Weiß-Bilder, die von
einem oder wenigen Ärzten betrachtet wurden. Heutige
Computertomographen nehmen zahlreiche hochaufgelöste 3D-Bilder des
Patienten auf.

Die Radiologie setzt bei der Analyse solcher Bilder zunehmend auf
digitale Assistenten: Eine Software auf Basis Künstlicher Intelligenz
erkenne in den Bildern kleine Störungen oder Tumore und weise die
Radiologen darauf hin. «Der Computer wird den radiologischen Befund
ergänzen», erklärt Antoch. «Es wird darum gehen, den Radiologen bei

seiner Arbeit zu unterstützen.»