Leben im Ausnahmezustand - Ein Blick nach Bayern und Freiburg Von Dorothea Dörner und Michael Donhauser, dpa

Ein Freistaat im Shutdown: Im Kampf gegen das Coronavirus geht es
nach Bayerns Ministerpräsident Söder um Leben und Tod. Die Menschen
werden kreativ - und halten sich an die Regeln. Auch in Freiburg sind
die Anordnungen schärfer als anderswo.

Freiburg/Nürnberg (dpa) - Ulrike Noll sitzt am Fenster ihrer Wohnung
im oberfränkischen Kronach. Vor ihr Zettel, Stift und eine Tasse
Kaffee, neben ihr die achtjährige Sophie. Gemeinsam notieren Mutter
und Tochter auf ihrer Strichliste alles, was vorbeikommt. Nach einer
Stunde bilanzieren sie: 10 Autos, 6 Hunde, 14 Fahrräder, 6 Fußgänger

und 1 Jogger. «Irgendwas muss man ja machen», sagt Noll.
Beschäftigungstherapie in einem Freistaat, dessen öffentliches Leben
im Kampf gegen das Coronavirus auf ein Mindestmaß zurückgefahren
wurde. 3695 Fälle von positiv auf das Virus getesteten Menschen
verzeichnete das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
am Samstag in Bayern. 21 Menschen sind bereits gestorben.

Der zum Krisenmanager gewordene Ministerpräsident Markus Söder
(CSU) hat die wohl bundesweit schärfsten Maßnahmen im Kampf gegen das

Virus verhängt und wählt Worte, wie sie drastischer kaum sein
könnten: «Es geht um Leben und Tod.» In anderen Bundesländern wird
er
wegen seines Vorpreschens kritisiert.

Gute acht Stunden zuvor sind in Bayern allgemeine
Ausgangsbeschränkungen in Kraft getreten. Der Freistaat steht seitdem
weitgehend still. Bayern ist vorübergehend kein brodelnder
Wirtschaftsstandort mehr. Seit Samstag, 0.00 Uhr, heißt der
eingestellte Modus: Systemerhaltung. Supermärkte und Apotheken dürfen
noch öffnen, daneben Postfilialen und Drogerien - und auch
Schnellrestaurants mit Drive-In-Schaltern gelten als systemrelevant.

Auch das rund 230 000 Einwohner zählende Freiburg in Bayerns
Nachbarbundesland Baden-Württemberg ist in der Corona-Krise ein
besonderes Pflaster: Es ist die erste deutsche Großstadt, die
öffentliche Orte wegen des Coronavirus für tabu erklärt hat.

Straßen und Plätze in Freiburg sind am Samstag weitgehend
menschenleer, Parks und Grünanlagen verwaist. In der Einkaufsmeile
der Innenstadt, in der sonst dichtes Gedränge das Bild prägt,
herrscht gähnende Leere. Die meisten Menschen hielten sich an die
neue Regelung, heißt es von den Behörden.

Eine Sprecherin des Polizeipräsidiums Freiburg sagt: «Wir
kontrollieren verstärkt, haben unsere sichtbare Präsenz deutlich
erhöht und schauen mit vielen Einsatzkräften, dass das
Betretungsverbot eingehalten wird.» Die erste vorläufige Bilanz sei
positiv. «Wir stoßen bei den Menschen auf Einsicht und Verständnis.
»
Häufig müssten die Beamten Jugendgruppen ermahnen, die trotz des
Verbots gemeinsam im Freien feierten. Eine Sprecherin der Stadt
Freiburg sagt, wer die Verbote missachte, müsse mit einem Bußgeld von
bis zu 25 000 Euro rechnen.

Was sagen die Bürgerinnen und Bürger? «Man muss die Sache entspannt
sehen», findet eine Frau auf einem der Freiburger Wochenmärkte. Diese
sind am Samstag gut besucht. Einkaufen oder zur Arbeit gehen dürfen
die Freiburger. Auch allein, zu zweit oder mit der Familie dürfen sie
unterwegs sein. Nur Gruppen sind untersagt - überall in der Stadt.

Auf den Boden haben die Marktbetreiber Punkte aufgemalt, die
anzeigen, wer in der Schlange vor dem Marktstand wo stehen sollte.
Der Mindestabstand von 1,50 Metern soll so eingehalten werden. Gut
besucht ist ein Blumenstand auf dem Freiburger Münstermarkt. «Die
Leute kaufen Blumen, um sich in dieser Zeit an etwas erfreuen zu
können», sagt die Verkäuferin.

In Bayerns Landeshauptstadt München fahren Fahrzeuge der Feuerwehr am
Wochenende durch die menschenleeren Straßen von Wohnsiedlungen.
«Bleiben Sie zu Hause», schallt die Aufforderung aus dem
Fahrzeuglautsprecher. «Zuwiderhandlungen werden hart bestraft.»

In den ersten Stunden der zunächst auf zwei Wochen angesetzten
Ausgangssperre sind solche Maßnahmen offensichtlich kaum notwendig.
«Die meisten Menschen verhalten sich sehr kooperativ», erklärt ein
Sprecher der Münchner Polizei im Bayerischen Rundfunk.

In der Innenstadt von Nürnberg müssen die Polizeistreifen am Samstag
nicht eingreifen, es herrscht überall Leere. «Wir machen vielleicht
noch zehn oder auch nur fünf Prozent des normalen Umsatzes», sagt Ali
Öczan, Inhaber des Dönergrills «Atlantik». «Am Montag werden wir

wahrscheinlich ganz schließen.» Für neun seiner zwölf Mitarbeiter i
st
von nächster Woche an ohnehin Kurzarbeit beantragt.

Für die Menschen in Bayern ist der Einkauf beim Lebensmittelmarkt
eine der wenigen Konstanten. «Für uns ist es ein ganz normaler
Samstag», sagt Ellen Ulrich, Marktleiterin in einem Rewe-Supermarkt
im mittelfränkischen Schwabach. Und Tag eins der Ausgangssperre hat
für sie auch ein Novum gebracht: «Es ist der erste Tag, an dem die
Kunden vernünftig sind und Abstand halten.»