Experten: Pandemie kann Großbritannien schlimmer als Italien treffen Von Silvia Kusidlo, dpa

Das Coronavirus könnte in Großbritannien besonders viele
Menschenleben fordern - vielleicht sogar mehr als in Italien,
fürchten Experten. Doch kann die anfangs zögerlich handelnde
Regierung mit ihren Maßnahmen die Gefahr noch abwehren?

London (dpa) - Erste Kliniken weisen Patienten ab, Krankenschwestern
schützen sich mit Müllbeuteln: In Großbritannien spitzt sich die
Coronavirus-Krise zu. «Wir wissen, was auf uns zukommt - und wir
wissen, dass das gewaltig sein wird», zitierte der Fernsehsender Sky
News am Wochenende einen Mediziner eines Londoner Krankenhauses, der
anonym bleiben wollte. Die Lage in Großbritannien könnte ihm zufolge
noch verheerender als in Italien werden. Aus Mangel an Kapazitäten
und Ausstattung würden er und seine Kollegen künftig Entscheidungen
über Leben und Tod treffen müssen, fürchtet er.

Ärzte haben britischen Medien zufolge schon die offizielle Anweisung
hierfür bekommen: Sie sollen nach Überlebenschancen der Patienten
abwägen, wer Hilfe erhält. Das Gesundheitsministerium kündigte am
Wochenende an, dass Menschen, bei denen eine Infektion mit dem
neuartigen Erreger etwa wegen Vorerkrankungen besonders gefährlich
sein könnte, drei Monate zu Hause in Isolation leben sollen.
Betroffen von dieser Maßnahme seien 1,5 Millionen Briten.

Auch Premier Boris Johnson klingt nicht mehr gerade zuversichtlich.
Noch vor einigen Tagen hatte er gesagt, dass das Schlimmste im
Frühsommer überstanden sein könnte, sollten sich landesweit alle an
die Verhaltensregeln halten. Jetzt warnt er davor, dass die
Krankenhäuser in zwei bis drei Wochen so überfordert sein könnten wie

die in Italien. Und zum Muttertag, der in Großbritannien bereits am
Sonntag begangen wurde und nicht wie in Deutschland erst im Mai, gab
er seinen Landsleuten mit auf den Weg: Das beste Geschenk für die
älteren Mütter sei, sich von ihnen fernzuhalten, um sie nicht zu
gefährden.

Was die Lage im Vereinigten Königreich so prekär macht, ist der
desolate Zustand des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS (National
Health Service). Der vor allem aus Steuermitteln finanzierte NHS war
einst ein Aushängeschild des Landes. Doch seit vielen Jahren ist er
chronisch unterfinanziert, überlastet und marode. Kritiker sprechen
davon, dass das Gesundheitswesen schlicht kaputtgespart worden ist.

So standen in Großbritannien zunächst auch nur knapp 5000
Beatmungsgeräte zur Verfügung - das Land belegte damit einen der
letzten Plätze in den europäischen Statistiken auf 100 000 Einwohner
berechnet. Johnson rief in der Not sogar Staubsaugerhersteller und
Autobauer auf, solche Apparaturen herzustellen. Am Samstag kamen noch
einmal fast 1200 Beatmungsgeräte durch eine Vereinbarung mit privaten
Kliniken hinzu. Dennoch dürfte das Prognosen zufolge bei weitem nicht
für alle Covid-19-Lungenkranken reichen.

Doch das ist nicht das einzige Problem mit Blick auf die Pandemie. Es
mangelt auch an Pflegepersonal und Ärzten. Nicht zuletzt wegen des
Brexits haben viele medizinische Fachkräfte das Land schon längst
verlassen. In den Wintermonaten, wenn die Grippefälle hinzukommen,
steht das Gesundheitswesen regelmäßig kurz vor dem Kollaps. Kritiker
werfen Johnson vor, dass er durch seinen Schlingerkurs im Kampf gegen
das Coronavirus auch noch wertvolle Zeit verloren habe.

Ein Londoner Krankenhaus musste bereits in der vergangenen Woche
schwerkranke infizierte Patienten abweisen, weil es keine Kapazitäten
mehr hatte. Die völlig erschöpften Krankenschwestern schützten sich
dort mit großen, blauen Müllbeuteln vor einer Ansteckung. «Wir
mussten selbst die Initiative ergreifen», berichtete eine
Krankenschwester dem «Telegraph». Es fehle an Masken, OP-Kitteln und
Handschuhen. Man brauche aber eine solche Ausstattung. «Ansonsten
werden Krankenschwestern und Ärzte sterben - so einfach ist das.»

Das Virus ist inzwischen in allen Landesteilen des Vereinigten
Königreichs aufgetaucht. Nach Regierungsangaben vom Sonntag haben
sich 5683 Menschen infiziert, 281 sind gestorben. Besonders betroffen
ist London, vor allem im Parlamentsviertel und der Umgebung. Und bei
weitem nicht alle Verdachtsfälle werden auf den Erreger getestet.

Noch bewahren die meisten Briten angesichts der Gefahr Haltung - eine
«stiff upper lip», eine steife Oberlippe, wie man in Großbritannien
sagt. Dass sie sich aber doch große Sorgen machen, sieht man an den
Hamsterkäufen: Viele Supermarktregale in London, Brighton oder in
anderen Städten sind bereits leer. Völlig unnötig und unfair anderen

gegenüber sei das, polterte Ernährungs- und Landwirtschaftsminister
George Eustice am Samstag in London los. Die Lebensmittelhersteller
hätten ihre Produktion sogar um 50 Prozent gesteigert.

Vor allem Klopapier ist kaum noch zu bekommen. Eine zunehmende Anzahl
von Menschen benutzt in der Not alte Zeitungen und Küchenrollen.
Ausgerechnet das könne aber die Abwasserkanäle verstopfen, warnte das
Unternehmen Northumbrian Water.

Seit Samstag sind nun landesweit auch alle Bars, Restaurants und
Cafés geschlossen, um die Ausbreitung des zuerst in China
aufgetauchten Erregers etwas zu bremsen. Auch Nachtclubs, Theater,
Kinos, Freizeitzentren sowie Sportstudios dürfen nicht mehr betrieben
- und die beliebten Pubs. «Ich weiß, dass wir etwas Außergewöhnlich
es
machen, wir nehmen das uralte und unveräußerliche Recht frei
geborener Menschen, in den Pub zu gehen, weg», sagte Johnson.