Disziplin vs. Ignoranz: Deutsche Befindlichkeiten in Corona-Zeiten Von Werner Herpell und den dpa-Korrespondenten

Ausgangsbeschränkungen oder gar -sperren? Viel hängt vom vernünftigen

«Social Distancing» der Bürger in Deutschland ab, ob es bundesweit so

kommt wie in Italien, Spanien oder Frankreich. Die Signale der
Menschen sind unterschiedlich - Disziplin trifft auf Ignoranz.

Berlin (dpa) - Die Kanzlerin sprach sachlich und fürsorglich zugleich
über die lebensnotwendige Eindämmung des Coronavirus - doch ihre
Warnung war kaum zu überhören: Deutschland muss sich in der Krise
zusammenreißen und soziale Kontakte auf ein Minimum herunterdimmen -
sonst... Angela Merkels beispiellose TV-Ansprache vom Mittwoch
scheint in ihrer Dringlichkeit indes nicht überall angekommen zu
sein. Eindrücke von Reportern der Deutschen Presse-Agentur aus einem
zwischen Alarmstimmung, Disziplin und Ignoranz geteilten Land, dem
nun Ausgangssperren drohen.

«CORONA-PARTYS» NUR SPITZE DES EISBERGS

Seit Tagen verursachen sie Kopfschütteln, Ärger, Polizeieinsätze:
Menschen, die sich trotz aller Appelle und Verbote draußen oder
zuhause zu sogenannten Corona-Partys verabreden und treffen. Das ist
längst kein großstädtisches Feier-Phänomen: Am Donnerstagabend lö
st
die Polizei in Staßfurt (Sachsen-Anhalt) eine Ansammlung von
Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahre auf, die auf einem Platz
sichtlich gut gelaunt «Corona, Corona» singen. Im Kreis Pinneberg bei
Hamburg hätten in der Nacht davor fünf bis zehn Jugendliche Passanten
sogar mit Umarmungen provoziert, berichtet die Polizei.

«WAS GEHT ES UNS AN?»

Fernsehinterviews mit jungen Menschen vermitteln dieser Tage den
Eindruck: Da ist noch viel Lässigkeit und Leichtsinn unterwegs -
vielleicht weil sich manche durch die Krise nicht persönlich
betroffen fühlen. «Die Jüngeren verhalten sich am unvernünftigsten
»,
sagt der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, am
Freitag in Berlin. «Wir können diese Pandemie nur verlangsamen, wenn
wir uns alle an die Spielregeln halten.» Nach Umfragen meine noch
immer jeder Vierte, das alles sei Panikmache.

MENSCHLICHE KONTAKTE - IN BERLIN OFT IMMER NOCH ZU ENG

Nach dem grauen Winter lockt in Berlin die Frühlingssonne. Dutzende
Radfahrer, Jogger und Skater ziehen am Donnerstagnachmittag im
quirligen Volkspark Friedrichshain ihre Runden - meist allein und mit
Abstand zu anderen. Eltern gehen mit kleinen Kindern spazieren,
meiden aber die geschlossenen Spielplätze vorbildlich. Wenige Meter
weiter sieht es schon anders aus: Drei Männer spielen
Beachvolleyball, obwohl Sportstätten eigentlich geschlossen sind.
Enger ist der menschliche Kontakt an einem großen Kletterfelsen. Und
noch mehr Betrieb herrscht auf einem umzäunten Basketballplatz, wo
zwei kleinere Mannschaften um den Ball kämpfen. «Ich weiß, dass es
eigentlich nicht sein soll, aber ganz ohne Sport geht es nicht»,
sagte ein etwa 30-jähriger Mann etwas schuldbewusst. «Auf die paar
Leute kommt es jetzt doch auch nicht an.»

EINE MINDERHEIT - UND DOCH VIELE POTENZIELLE VIRUS-ÜBERTRÄGER


Letztlich ist nur eine kleine Minderheit unvernünftig. In einer Stadt
mit knapp vier Millionen Einwohnern wie Berlin ergibt das jedoch
bereits eine beträchtliche Größenordnung. Nachts kommt die Polizei zu

ähnlichen Ergebnissen. Zwar sind Kneipen, Bars und Clubs fast alle
geschlossen, Döner und Falafel gibts nur noch zum Mitnehmen. Die
Straßen in den Partykiezen von Kreuzberg, Neukölln und Friedrichshain
sind nachts fast leer. Aber hier und dort finden sich eben doch
gruppenweise Biertrinker vor den «Spätis» zusammen. Und manche Kneipe

öffnet heimlich. 91 Anzeigen stellen die Spezialstreifen der Polizei
deswegen in der Nacht zum Freitag. Auffällig sei, dass es offenbar
nachts deutlich mehr gravierende Verstöße gibt.

«UNSERE UND IHRE BÜRGERLICHE PFLICHT» IN HANNOVER

Die Polizei in Niedersachsen stellt am Freitag insgesamt nur wenige
Verstöße gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus fest. I
n
Wolfsburg geht man nach den Worten eines Sprechers aber Hinweisen aus
sozialen Medien auf geplante Treffen nach - mit «geballter Kraft»
seien die Beamten in Naherholungsgebieten unterwegs, um solche
Treffen aufzulösen, meist gehe es um Jugendliche. Derweil ist die
Stimmung in der Innenstadt von Hannover fast gespenstisch: Während
einige wenige über die zentrale Einkaufsstraße huschen, ertönt es aus

einem Polizeiwagen: «Es ist unsere und Ihre bürgerliche Pflicht.
Schränken Sie ihre sozialen Kontakte also auf ein Minimum ein.»

WOCHENMARKT STATT LADEN

Einkaufen an der frischen Luft scheint für viele Menschen in
Corona-Zeiten eine gute Alternative zu sein. Auf den Wochenmärkten in
Hamburg herrscht am Freitag reger Betrieb. «Ich gehe jetzt viel
lieber auf dem Markt einkaufen, weil das Gemüse dort nicht so oft
angefasst wird wie im Supermarkt», sagte Frauke Putensen. Immerhin:
Die meisten Menschen halten wohl den Sicherheitsabstand in den
Warteschlangen ein - manche Händler haben dafür extra Bereiche auf
dem Boden markiert oder ihre Stände umgebaut, um mehr Distanz zur
Kundschaft zu gewinnen, einige tragen Atemschutzmasken.

BOTSCHAFT ANGEKOMMEN - ZUMINDEST TAGSÜBER

«Es gibt keine Zusammenrottungen», sagt ein dpa-Reporter in Köln nach

längerer Tour am Freitagvormittag mit dem Fahrrad. Straßen ziemlich
leer, die meisten Cafés geschlossen - und in denen, die noch auf
haben, holen sich vereinzelte Kunden nur schnell einen Coffee-to-go.
Vielleicht ist die Botschaft der Kanzlerin und vieler Experten doch
bei mehr Leuten angekommen. Es könnte aber auch nur der Tageszeit und
dem Wetter geschuldet sein - in der sonst so wuseligen Domstadt ist
es kalt und wolkenverhangen.

POLITIK ZWISCHEN «VERHÄLTNISMÄßIGKEIT»... 

Am Sonntag dürfte für das öffentliche Leben in Deutschland klarer
werden, wohin die Reise angesichts der Sorglosigkeit vieler Menschen
beim «Social Distancing» geht: Dann will Kanzlerin Merkel mit den
Bundesländern «die Wirkung der bisherigen Maßnahmen schonungslos
analysieren», wie Regierungssprecher Steffen Seibert ankündigt.
Zugleich gelte es, die Verhältnismäßigkeit zu wahren. «Wir handeln

als Demokratie. Das gilt jetzt, und das wird auch weiter gelten.»
Schon die bisherigen Einschränkungen seien «sehr schwerwiegend».

...UND HARTEM DURCHGREIFEN

Bayern geht wieder mal einen Schritt voran: Zur Eindämmung des
Coronavirus gelten im Freistaat schon vom Samstag an weitreichende
Ausgangsbeschränkungen. Das Verlassen der eigenen Wohnung ist dann
nur noch bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt: der Weg zur Arbeit,
notwendige Einkäufe, Arzt- und Apothekenbesuche, Hilfe für andere,
Besuche von Lebenspartnern, auch Sport und Bewegung an der frischen
Luft - dies aber nur alleine oder mit den Personen, mit denen man
zusammenlebt. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagte in München,

für die Vernünftigen ändere sich gar nicht viel, doch für die
Unvernünftigen gebe es nun ein klares Regelwerk. Im niederbayerischen
Straubing sagt ein junger Mann indes: «Man kann die Leute doch nicht
daheim einsperren. Ich brauche meine Freiheit.»