«Business as Usual»: Olympisches Feuer in Japan - Heftige Kritik Von Andreas Schirmer und Wolfgang Müller, dpa

Ungeachtet der Debatten um die Ausrichtung der Spiele im Sommer hält
das IOC am traditionellen Ritual und den Tokio-Spielen fest. Das
Olympische Feuer ist nun in Japan eingetroffen - kommt es auch in der
Hauptstadt des Landes an?

Tokio (dpa) - Die Olympische Flamme ist in Japan eingetroffen. Ob sie
aber auch am 24. Juli im Nationalstadion von Tokio zur Eröffnung der
XXXII. Sommerspiele lodern wird, bezweifeln immer mehr aktuelle und
ehemalige Athleten, Sportfunktionäre und -politiker. «IOC-Präsident
Thomas Bach hängt zwar an den Spielen, aber es wäre schlau, sie um
ein Jahr zu verlegen», sagte Zehnkampf-Olympiasieger Willi Holdorf am
Freitag der Deutschen Presse-Agentur. Der 80 Jahre alte Leichtathlet
gewann 1964 bei den Spielen in Tokio die Goldmedaille.

Noch deutlicher wurde der frühere Fußball-Weltmeister Paul Breitner.
«Wenn ich diese unverantwortlichen Profilneurotiker des IOC sehe,
kommt mir das Kotzen! Die wollen allen Ernstes ein Hochamt des
Dopings in Tokio im Sommer. Sind die blind? Wissen die nicht, was
jetzt abgeht?», sagte der 68 Jahre alte Bayer Breiter im Interview
der Zeitungen «Münchner Merkur» und «tz» (Samstag-Ausgabe) und
ergänzte: «Ja, verdammt nochmal, wer braucht in diesen Zeiten diese
Spiele? Niemand!»

Die Sportausschussvorsitzende des Bundestages spricht von einer
«Hinhaltetaktik». Diese diene «einzig den Interessen des IOC und des

Organisationskomitees in Tokio», sagte Dagmar Freitag der Deutschen
Presse-Agentur und fügte hinzu: «Die Athleten, ohne die es übrigens
das Produkt Olympische Spiele nicht geben kann, sind eindeutig die
Leidtragenden.»

Von den Aktiven setzt es entsprechend Kritik. Die strikte Haltung des
IOC, an den Tokio-Spielen wie geplant festzuhalten, kann Boxerin
Nadine Apetz nicht verstehen. «Die Bedingungen für die Qualifikation
sind momentan katastrophal, wir wissen nichts, und die Athleten sind
auf unterschiedlichen Leistungsniveaus», sagte die Athletensprecherin
des Deutschen Boxsport-Verbandes dem «Spiegel». Eine Verschiebung der
Spiele wäre die beste Lösung. Apetz: «Ich sehe nicht, dass Olympia
stattfindet.»

Ähnlich argumentiert die deutsche 400-Meter-Meisterin Luna Bulmahn
aus Hannover. «Es wäre den Sportlern gegenüber nicht fair, wenn die
Spiele bei unklarer Lage stattfinden würden», meinte die 20-Jährige
im Interview der «Hannoverschen Allgemeinen Zeitung» (Freitag).
Allein im Olympischen Dorf wären so viele Athleten auf einem Haufen,
dass die Ansteckungsgefahr sehr hoch wäre. «Das IOC kann es sich
eigentlich nicht erlauben, dass sich nur ein einziger Sportler
während Olympia mit Corona infiziert», so Bulmahn.

Dass die Spiele nicht längst abgesagt sind, kann die die
Doppel-Olympiasiegerin von 1972, Heide Ecker-Rosendahl, nicht
nachvollziehen.«Sie haben nur Angst um ihre Finanzen oder das Gesicht
zu verlieren. Ich finde das sehr bedenklich», sagte sie der dpa. Sie
finde es «erstaunlich, wie wenig Rücksicht man auf die Athleten»
nehme.

Es sei allerhöchste Zeit, dass das IOC das Thema Chancengleichheit
und Qualifikation überhaupt einmal diskutierte, meinte Freitag. «Das
hörte sich vor wenigen Tagen ja noch völlig anders an, nach dem
Motto: 'The Show must go on'», sagte die SPD-Politikerin. Ein fairer
Wettkampf setze auch die Einhaltung von Regeln, Dopingkontrollen und
Chancengleichheit bei dem Erreichen von Qualifikationsnormen voraus.
«Nichts davon ist zur Zeit gegeben. Und wird es bis Juli auch nicht
mehr geben können», meinte Freitag.

Und selbst die Deutsche Olympische Gesellschaft forderte das IOC zum
Handeln auf. «Das IOC sollte den Mut haben, die Olympischen Spiele
von Tokio 2020 abzusagen und die Menschen, die Sportler, die
Sportwelt nicht länger im Ungewissen lassen», sagte DOG-Vizepräsident

Hans-Joachim Lorenz. Es gehe nicht mehr um die Entscheidung der
Weltgesundheitsorganisation, die nach Ansicht von IOC-Präsident
Thomas Bach abzuwarten sei. «Es geht um die eigene Entschlossenheit!
Es geht auch um Fairness», sagte Lorenz.

Der vielstimmige Chor der Kritiker findet beim IOC offenbar kein
Gehör. Nach dem Motto «Business as Usual» wird am traditionellen
olympischen Prozedere festgehalten. Per Flugzeug aus Griechenland
traf die Olympische Flamme am Freitag auf dem japanischen
Militärstützpunkt in Higashimatsushima ein. Allerdings war die
Zeremonie kleiner als geplant. 200 Schüler, die ursprünglich
eingeladen waren, durften wegen der Coronavirus-Gefahr nicht
teilnehmen. «Wir wissen zwar nicht, wie lang der Tunnel sein wird, in
dem wir uns jetzt alle befinden, aber wir möchten, dass die
olympische Flamme ein Licht am Ende dieses Tunnels ist», twitterte
Bach.

In einem Interview mit der «New York Times» am Donnerstag (Ortszeit)
wehrte sich der IOC-Chef weiter gegen jegliche Spekulation über eine
Verlegung. «Natürlich bedenken wir verschiedene Szenarien, aber im
Gegensatz zu vielen anderen Sportverbänden oder Profi-Ligen sind wir
viereinhalb Monate entfernt von den Spielen», erklärte der 66-jährige

Deutsche.

«Wir sind von dieser Krise betroffen wie alle anderen, und wir sind
besorgt wie alle anderen», sagte Bach. «Wir leben nicht in einer
Blase oder auf einem anderen Planeten.» Was diese Krise so
einzigartig und so schwer zu überwinden mache, sei die Unsicherheit.
«Deshalb wäre es in keiner Weise verantwortlich, jetzt ein Datum
festzulegen oder eine Entscheidung zu treffen, die auf der
Spekulation über die zukünftigen Entwicklungen beruht.» Auch die
Organisatoren und die Regierung des Ausrichterlandes halten an den
Plänen fest, Olympia vom 24. Juli bis 9. August und die Paralympics
von 25. August bis 6. September auszurichten.

Der US-Medienkonzern Discovery mit sein Tochter-Unternehmen Eurosport
sieht unterdessen die Unsicherheiten gelassen. «Da wir für alle Fälle

abgesichert sind, erwarte ich keinen substanziellen Schaden für
Discovery bei jeglichen Entscheidungen im Hinblick auf die
Olympischen Spiele in Tokio», sagte Finanzvorstand Gunnar Wiedenfels
(42) der «Süddeutschen Zeitung». Der Konzern hatte vor fünf Jahren

die TV-Rechte an den Olympischen Sommer- und Winterspielen von 2018
bis 2024 für geschätzte 1,3 Milliarden Euro erworben.

Unterstützung erhält Bach vom deutschen Kanu-Verbandschef Thomas
Konietzko. «Stellen Sie sich vor, was das für ein positives Zeichen
für die Welt wäre, wenn es uns gelingt, die Olympischen Spiele als
erste Veranstaltung nach dieser weltweiten Krise stattfinden zu
lassen», sagte der DKV-Präsidet der Zeitung «Neues Deutschland»
(Freitag).