Anti-Corona-Maßnahmen: Ärztepräsident warnt vor Überforderung

Wie weit darf der Staat die Rechte der Bürger beschneiden? Die
Debatte um eine bundesweite Ausgangssperre tobt weiter. Am Sonntag
soll es dazu ein Spitzengespräch geben. Andere Länder sind rigoroser.

Berlin (dpa) - Vor neuen Bund-Länder-Beratungen über das weitere
Vorgehen in der Coronavirus-Krise hat die Bundesärztekammer vor einer
Überforderung der Bürger gewarnt. «Ich glaube nicht, dass wir das,
was wir jetzt tun, monatelang fortführen können», sagte
Ärztepräsident Klaus Reinhardt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland
(RND/Freitag). «Die Ängste und Sorgen würden die Menschen psychisch
überfordern.» Er sprach sich für eine klare Befristung der
Beschränkungen im Alltag aus und lehnte eine Ausgangssperre ab.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will am Sonntagabend mit den
Ministerpräsidenten der Länder in einer neuerlichen Telefonkonferenz
beraten. Dabei dürfte es auch darum gehen, ob und wann
Ausgangssperren verhängt werden sollen. Mehrere Regierungschefs
hatten am Donnerstag mit Ausgangssperren gedroht. «Es hängt von der
Bevölkerung ab, ob wir schärfere Maßnahmen ergreifen müssen», sag
te
der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann
(Grüne) dem SWR.

Hintergrund ist, dass viele Bundesbürger den Aufrufen, Abstand zu
Mitmenschen zu halten, nicht nachkommen. Merkel hatte zuletzt
eindringlich zu mehr Disziplin gemahnt. Seit Donnerstag dürfen die
Menschen im bayerischen Mitterteich und zwei weiteren Orten bereits
nur noch in Ausnahmefällen auf die Straßen. Freiburg beschloss am
Abend ebenfalls eine Ausgangssperre für größere Gruppen, ein
sogenanntes Betretungsverbot für öffentliche Orte.

Andere Länder wie Italien, Spanien und Frankreich waren schon früher
rigoroser vorgegangen und verhängten weitgehende Ausgangssperren. Am
Donnerstag folgte auch Israel. Regierungschef Benjamin Netanjahu
verkündete eine zunächst einwöchige Ausgangssperre. Ziel sei es,
viele Leben zu retten, sagte der 70-Jährige. «Wenn jemand meint, dass
ich übertreibe, sollte er sich die Bilder aus Spanien und Italien
anschauen. Dort kümmert man sich nicht mehr um die Kranken, sondern
transportiert die Leichen in Militärfahrzeugen.» Spanien ordnete am
Abend die Schließung aller Hotels und Pensionen an.

In Deutschland sprach sich Ärztepräsident Reinhardt jedoch gegen
Ausgangssperren im Kampf gegen die Epidemie aus. Damit werde eine
gespenstische Atmosphäre geschaffen, «die die Menschen extrem
ängstigt», sagte er dem RND. «Das kann auch dazu führen, dass die
Solidarität in der Gesellschaft, auf die wir jetzt dringend
angewiesen sind, auseinanderbricht.» Der Virologe Alexander Kekulé
mahnte im Podcast «Kekules Corona-Kompass» von MDR-«Aktuell»: «We
gen
einer kleinen Minderheit 95 Prozent der Bevölkerung einzusperren, da
ist der Kollateralschaden viel zu hoch.»

Ähnlich äußerte sich der Städte- und Gemeindebund. «Im Vordergrun
d
sollte immer wieder Aufklärung und Belehrung und nicht Zwang stehen,
der flächendeckend ohnehin kaum zu kontrollieren ist», sagte dessen
Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg den Zeitungen der Funke
Mediengruppe (Freitag). Eine flächendeckende Ausgangssperre sei einer
der gravierendsten Eingriffe in die Freiheitsrechte jedes Einzelnen
und «noch nicht notwendig».

Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern,
Stephan Mayer (CSU), sagte der «Passauer Neuen Presse» (Freitag), er
sehe derzeit keine zwingend erforderliche bundesweite Ausgangssperre.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) verwies am
Abend in den ARD-«Tagesthemen» darauf, dass in den letzten Tagen
bereits eine ganze Menge Grundrechte «so mal eben» eingeschränkt
worden seien: «Die Bewegungsfreiheit, das Recht, zur Schule zu gehen,
die Gewerbefreiheit, die Religionsfreiheit.» Er betonte, es könne nun
nicht jedes Land eigene Regeln einführen. «Wir brauchen eine
gemeinsame Strategie.» Jeder Einzelne könne dazu beitragen, dass
Ausgangssperren vermieden würden.

In den USA entwickelte sich New York zu einem der am härtesten von
der Coronavirus-Krise getroffenen Städte. Schnell steigende
Fallzahlen angesichts von deutlich mehr durchgeführten Tests machten
das Ausmaß der Coronavirus-Krise in der Millionenmetropole sichtbar.
Alleine von Dienstag bis Donnerstag schnellte die Zahl nachgewiesener
Infektionen um mehr als das Vierfache auf knapp 4000 Fälle in die
Höhe. Das US-Außenministerium sprach zudem eine weltweite
Reisewarnung für seine Bürger aus. Deutschland setzte seine
Rückholaktion für Zehntausende Bürger aus dem Ausland, die sogenannte

Luftbrücke, fort.

Auch die Wirtschaft wird für harte Zeiten gerüstet. Das
Bundeskabinett will an diesem Montag weitere Notmaßnahmen auf den Weg
bringen. Dabei geht es unter anderem um eine Verordnung zum
Kurzarbeitergeld, den geplanten Nothilfefonds für Selbstständige und
eine Lockerung des Insolvenzrechts. Angesichts von Existenznöten bei
Solo-Selbstständigen und Kleinstfirmen plant die Bundesregierung ein
Hilfspaket von über 40 Milliarden Euro. Selbst große Konzerne kämpfen

um ihre Existenz. Viele Autobauer schränkten die Produktion ein.

Zunehmend geraten auch Kulturveranstaltungen in Mitleidenschaft. So
wurden die Filmfestspiele im Mai in Cannes abgesagt, das Metropolitan
Museum in New York muss wohl bis Juli geschlossen bleiben und auch
die berühmten Passionsspiele von Oberammergau wurden abgesagt, in der
Kino-Branche geht die Existenzangst um.

In Deutschland sind bislang mehr als 15 000 Infektionen mit dem neuen
Coronavirus bekannt, am Mittwoch waren es noch etwas mehr als 10 000.
44 mit Sars-CoV-2 Infizierte sind bislang bundesweit gestorben.
Italien meldete am Abend mehr Todesfälle als China und ist damit das
Land auf der Welt mit den meisten offiziell gemeldeten Toten. Bisher
seien 3405 mit dem Erreger infizierte Menschen gestorben, teilte der
Zivilschutz des Landes mit.

Knapp die Hälfte der Wahlberechtigten ist einer aktuellen Umfrage
zufolge besorgt, dass sie oder ein Familienangehöriger sich mit dem
neuartigen Coronavirus infizieren. Wie aus dem am Freitag
veröffentlichten «Deutschlandtrend» im ARD-«Morgenmagazin»
hervorgeht, machen sich 29 Prozent große und 19 Prozent sehr große
Sorgen. Das seien fast doppelt so viele wie am 5. März. Mit dem
Krisenmanagement der Bundesregierung in der Corona-Krise zeigen sich
65 Prozent aktuell zufrieden. 33 Prozent gaben hingegen an,
unzufrieden zu sein.