Medizinhistoriker: Bagatellisieren von Seuchen ist problematisch

Vor rund 100 Jahren grassierte die Spanische Grippe, vor nicht einmal
20 Jahren sorgte die Sars-Epidemie für Schlagzeilen. Welche Lehren
können wir aus diesen Krankheitswellen für die Corona-Krise ziehen?

Gießen (dpa/lhe) - Ein Blick zurück auf vergangene Epidemien kann aus
Expertensicht in der aktuellen Corona-Krise helfen. Vom Umgang
beispielsweise mit der Spanischen Grippe könne man lernen: «Das
Bagatellisieren oder das Wegschauen und Verleugnen einer
Seuchengefahr ist ein Problem und etwas, was wir immer wieder sehen.»
Das sagte der Gießener Medizinhistoriker Prof. Volker Roelcke der
Deutschen Presse-Agentur. «Das ist auch die Hauptmessage, die wir aus
den Erfahrungen mit der sogenannten Spanischen Grippe haben.»

Nach allem, was man wisse, sei diese sehr lokal in den USA
ausgebrochen. Aus Berichten werde ersichtlich, dass die zuständigen
Behörden die Seuche zunächst ignorierten. «Erst zwei, drei Monate
später, als es eine größere Zahl von Betroffenen gab, haben die
Behörden reagiert - aber nicht davon abgesehen, zum Beispiel
amerikanische Soldaten nach Europa zu schicken.» Die Spanische Grippe
grassierte zwischen 1918 und 1920 und forderte bis zu 50 Millionen
Tote.

Lernen kann man Roelcke zufolge auch aus Infektionswellen der
jüngeren Geschichte: «Man sieht, dass in südostasiatischen
Gesellschaften sehr konsequent Lehren gezogen worden sind aus der
Sars-Epidemie 2002/2003.» Man sei damals mit sehr strikten Maßnahmen
vorgegangen - was sich gelohnt habe. «Die Frage ist, wie solche
Maßnahmen kommuniziert werden. Wenn das transparent und glaubwürdig
begründet wird, ist das ein entscheidender Faktor, damit die
Bevölkerung Vertrauen gewinnen kann.»

Beim Ausbruch einer Seuche interessierten sich die Menschen
insbesondere für die Sterblichkeit, sagte Roelcke weiter. Aus der
Vergangenheit wisse man: «Die Sterblichkeitsrate wird durch eine
Reihe von Faktoren bestimmt und nicht allein durch die Biologie des
Virus. Dazu gehört auch die Immunitätslage bei den betroffenen
Gruppen und im besonderen Maß die Qualität der Gesundheitsversorgung.
Ein wichtiger Faktor ist auch das Verhalten der Bevölkerung - und das
ist wiederum stark gebunden an das Vertrauen in die Maßnahmen von
Behörden und Politik.»

Zu der Frage, ob die einschneidenden Maßnahmen zur Eindämmung der
Coronavirus-Pandemie in Deutschland und anderen Staaten angemessen
sind, sagte der Forscher: «Wenn eine Gesellschaft ein Mindestmaß an
Solidarität aufbringen möchte für ihre verletzlichsten Mitglieder und

dies für wichtig hält - dann gibt es sehr, sehr gute Gründe dafür,

die Maßnahmen, die wir jetzt haben, auch anzunehmen.»