«Bastel-Olympiade»: Kritik an IOC wächst - Zweifel an fairen Spielen Von Andreas Schirmer, dpa

Die Kritik am Internationalen Olympischen Komitee nimmt zu - und auch
der Zweifel an fairen Spielen in Tokio wächst. Die Einschränkungen
bei den Qualifikationen sind massiv. Das IOC sieht noch keinen Grund
für eine Entscheidung: Bis zur Eröffnung seien doch vier Monate Zeit.

Frankfurt/Main (dpa) - Das Olympische Feuer wird am Freitag in Japan
erwartet, bei Athleten erlischt die Flamme der Begeisterung für die
Sommerspiele immer mehr. Der Traum jedes Sportlers ist durch die
Coronavirus-Pandemie für viele zum Alptraum geworden. «Jeder Tag, an
dem die Sportler nicht trainieren können, wird es schwieriger, dass
faire Spiele stattfinden können», sagte Max Hartung, Vorsitzender des
Vereins Athleten Deutschland. Dem für die Tokio-Spiele qualifizierten
Säbelfechter fällt es wie vielen anderen schwer, Olympia
abzuschreiben, weil es ein «Fixpunkt im Leben» sei.

Top-Turner Andreas Toba und Behinderten-Sportler Niko Kappel fordern
die sofortige Verschiebung von Olympia und Paralympics. «Nach der für
mich sehr berührenden Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel habe ich
mir viele Gedanken gemacht. Angesichts der immer deutlicheren Ansagen
der Politik, Medizin und Wissenschaft ist mir in den vergangenen
Tagen klar geworden: Die Olympischen Spiele müssen verschoben
werden», sagte der 29-jährige Toba der Deutschen Presse-Agentur.

Para-Kugelstoßer Kappel sieht es genauso. Eine vernünftige
Vorbereitung sei unmöglich geworden. Zudem gebe es nun wichtigere
Problem auf der Welt als den Sport, so sehr ihn eine Verschiebung
schmerzen würde, sagte der 25 Jahre alte Paralympicsieger von 2016
der dpa. «Die Paralympics sind so nicht zu verantworten, weil es
keine fairen Wettkämpfe mehr geben kann.»

Marathonläufer Philipp Pflieger tat sich zunächst schwer, die
Notwendigkeit zu erkennen, dass die Tokio-Spiele nicht wie geplant am
24. Juli eröffnet werden sollten. «Wenn eines in Stein gemeißelt ist:

dann die Olympischen Spiele», habe er gedacht. Nun meint er: «Im
Gegenteil: ich halte eine Verschiebung um ein bis zwei Jahre
inzwischen nicht nur für realistisch, sondern für das Beste.» Deshalb

fordert der gebürtige Sindelfinger «ein dringend überfälliges
Statement von Seiten des IOC, das sich an der Realität orientiert»
und keine «inhaltslosen Durchhalteparolen» mehr.

Auch Ruder-Weltmeister Richard Schmidt fordert vom Internationalen
Olympischen Komitee eine zeitnahe Entscheidung, «weil ja alle
Sportler weltweit, die sich vier Jahre lang für Olympia gequält
haben, faire Wettkämpfe wollen», sagte das 32 Jahre alte Crewmitglied
aus dem Deutschland-Achter den «Ruhr Nachrichten» (Donnerstag). Dazu
gehören auch nachvollziehbare Qualifikationen. «Aus mehreren
Gesprächen habe ich herausgehört, dass manche Sportler verunsichert
und teilweise wie paralysiert sind, weil sie nichts machen können»,
berichtet der Athletensprecher der deutschen Ruderer.

Skeptisch sieht ebenso Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul das
Festhalten an der Austragung der Tokio-Spiele. «Ich fände das
schwierig. Alleine schon aus dem Fairness-Gedanken heraus», sagte der
22-Jährige Mainzer der «Allgemeinen Zeitung Mainz». Für Alexandra
Wenk, zweimalige Olympia-Teilnehmerin im Schwimmen, ist
unverständlich, dass das größte Sportereignis der Welt noch nicht
abgesagt wurde. Sommerspiele in dieser Situation wären «absurd und
völlig irrelevant», sagte die Münchnerin der «Süddeutschen Zeitun
g.»

Klare Position gegen einen Austragung bezog als erstes IOC-Mitglied
Hayley Wickenheiser. Sie bezeichnete die Coronavirus-Krise als
«größer als die Olympischen Spiele». Wickenheiser gehört der
Athletenkommission des IOC an und gewann mit Kanada viermal
Olympia-Gold im Eishockey. Und sie weiß, wovon sie spricht: Als
angehende Medizinerin arbeitet sie in der Notaufnahme.

Einmal mehr auf der Linie von IOC-Präsident Thomas Bach bewegt sich
dagegen die Athletenchefin des IOC, Kirsty Coventry. Sie ermutigte in
einer Telefonkonferenz mit 220 Athletenvertretern «weiter das zu tun,
was sie tun», und betonte danach, dass die «Athleten zu den Spielen
nach Tokio fahren» wollen.

Bach zeigte sich über diesen «konstruktiven Austausch» erfreut und
versicherte, dass bei allen Erwägungen die Sicherheit und Gesundheit
oberste Priorität habe. Erneut bekräftigte der Fecht-Olympiasieger
von 1976, dass eine Entscheidung - Olympia ja oder nein - noch Zeit
habe: «Wir haben noch mehr als vier Monate vor uns.»

Der Verein Athleten Deutschland kritisierte IOC und Internationales
Paralympisches Komitees, «stur mit der Planung der Spiele»
fortzufahren. In der Telefonkonferenz des IOC habe «große
Unsicherheit» geherrscht. «Das IOC unterband jegliche Spekulationen
über Alternativszenarien und kommunizierte auf Nachfrage auch keine
Deadline für eine endgültige Entscheidung», hieß es weiter.

Bisher hätten sich 57 Prozent der rund 11 000 Athleten für die Spiele
in Japan qualifiziert. Bach versicherte, dass das IOC mit den
internationalen Fachverbänden zusammenarbeiten wolle, um alle
«notwendigen und praktischen Anpassungen an ihren jeweiligen
Qualifikationssystemen vorzunehmen».

Leichtathletik-Weltverbandspräsident Sebastian Coe will die
Tokio-Spiele zwar auch nicht abschreiben, ist aber besorgt über die
massiven Einschränkungen der Olympia-Qualifikation und sieht «keine
Chancengleichheit» mehr gewährleistet, wie der Brite der englischen
Zeitung «The Times» sagte. Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler aus

Jena pflichtet ihm bei. «Ich sehe derzeit keine Grundlage für einen
fairen sportlichen Vergleich - und das sollen die Olympischen Spiele
sein», sagte er dem «Sportbuzzer».

Für den Sportrechtler Michael Lehner wäre eine zügige Olympia-Absage

deshalb «ein Signal an die Welt», sagte der Jurist aus Karlsruhe dem
«Mannheimer Morgen». Man könne doch nicht die kleinen Fußballspiele

absagen, über Ausgangssperren nachdenken, die Schulen und Unis
schließen und meinen, «ich könnte im Juli Big Games machen.» Und we
nn
die Spiele stattfinden würden, wäre es eine «Bastel-Olympiade».