Alles «Panikmache»? Virale Thesen eines Lungenarztes im Faktencheck Von Rachel Boßmeyer und Jan Ludwig, dpa

Die Coronakrise ein «Hype» von unverantwortlichen Politikern und
«Panikmacher»-Ärzten, die Geld machen wollen? Die Behauptungen eines

Arztes und Ex-Politikers werden derzeit in sozialen Netzwerken weit
geteilt. Fachleute widersprechen scharf.

Berlin (dpa) - In Krisenzeiten wissen Menschen oft nicht, wem sie
glauben, was sie tun und was sie lassen sollen. Dann schlägt die
Stunde der Populisten, der Rauner und Abwinker. In den vergangenen
Tagen machte etwa der Lungenarzt und ehemalige Bundestagsabgeordnete
der SPD Wolfgang Wodarg mit steilen Thesen zum neuartigen Coronavirus
von sich hören. Interviews mit ihm auf Youtube wurden millionenfach
angeschaut. Einige seiner Behauptungen im Faktencheck:

BEHAUPTUNG: Das Virus sei vielleicht gar nicht so neu. Man könne
nicht wissen, «ob nicht schon in Peking oder in Italien früher diese
Viren vorhanden waren». Man habe «nie danach suchen können und nie
danach gesucht».

BEWERTUNG: Das Virus ist nach übereinstimmender Ansicht von Forschern
kürzlich zum ersten Mal bei Menschen aufgetreten.

FAKTEN: Wie neu genau Sars-CoV-2 ist, ist schwer zu sagen. Allerdings
bezweifeln Forscher, dass es das Virus schon Jahre vor den ersten
Krankheitsfällen in China gab, «allenfalls wenige Monate vor der
Entdeckung im Dezember», schätzt der Frankfurter Virologe Martin
Stürmer. «Sollte dieses Virus schon vorher in Italien oder China
vorhanden gewesen sein, hätte man die Erkrankten erkannt, die negativ
auf die bekannten Atemwegserreger sind, und hätte nach dem neuen
Erreger gesucht - so wie im Dezember in China», sagt auch Stephan
Becker vom Institut für Virologie der Universität Marburg.

Weitere Hinweise darauf, dass es sich um einen neuen, sich rasch
verbreitenden Erreger handelt, geben laut dem Vorstandsmitglied der
Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, Jörg Janne Vehreschild, die
Daten zum Krankheitsverlauf. In den meisten Statistiken sei etwa zwei
Wochen nach Anstieg der Fallzahlen auch ein Anstieg der Sterbezahlen
zu sehen. Wäre das Virus von vornherein in der gesamten Bevölkerung
verbreitet gewesen, wäre das Muster ein anderes.

BEHAUPTUNG: Der in Deutschland entwickelte Corona-Test sei «noch
nicht mal validiert». Er könne möglicherweise auf viele Viren positiv

reagieren, nicht nur auf das neuartige Sars-CoV-2. Wodarg suggeriert,
man mache einen Hype um das Coronavirus, damit Forscher mit den Tests
Geld verdienen könnten.

BEWERTUNG: Die Tests wurden in einer Art vereinfachtem Verfahren
validiert, um schnell verfügbar zu sein. Sie reagieren zwar auf
mehrere Viren, außer dem neuartigen Coronavirus treten diese aber
nicht oder nicht mehr beim Menschen auf. Die Kosten für einen Test
tragen die Krankenkassen.

FAKTEN: Ein Test auf das neuartige Coronavirus wurde von einem Team
um den Virologen Christian Drosten an der Berliner Charité
entwickelt. In einer klinischen Studie haben die Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler zunächst auf verschiedene Typen von Viren
getestet. Nach Bekanntwerden der Virus-Sequenz von Sars-CoV-2 wählte
das Team aus der Vielzahl an Tests die passendsten aus und führte
gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Rotterdam, Hongkong und London
weitere Untersuchungen durch.

Bisher ist der Test nur vorläufig validiert. Das hängt auch mit der
derzeitigen Dringlichkeit zusammen. Martin Walger, Geschäftsführer
des Verbands der Diagnostica-Industrie (VDGH), sagte der «Welt»
bereits im Januar: «In einer akuten Gefährdungslage wie jetzt würde
es viel zu lange dauern, einen Test auf herkömmlichem Wege auf den
Markt zu bringen.»

Der Test fällt zwar auch bei anderen Viren positiv aus, diese
Information sei aber irreführend, sagt Drosten in einem Podcast des
NDR. Denn diese Viren träten nur bei Fledermäusen auf oder
existierten nicht mehr - so etwa das alte Sars-Virus von 2002.
«Dieser Test reagiert gegen kein anderes Coronavirus des Menschen und
gegen kein anderes Erkältungsvirus des Menschen.»

Die Tests auf Sars-CoV-2 werden wie üblich nach den Honorarordnungen
der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherungen abgerechnet.
Drosten selbst stellt klar: «Wir verdienen keinen Cent, im Gegenteil:
Wir zahlen sehr viel drauf.»

BEHAUPTUNG: Die Coronakrise sei ein «Hype». Die Krankenhäuser würde
n
belastet «durch die vielen Fragen und durch die Panik, aber nicht
durch neue Krankheitsfälle». Es seien «leichtfertige und
unberechtigte Quarantänemaßnahmen und Verbotsregelungen» in Kraft -
und «gegen einen unsinnigen Freiheitsentzug sollte man sich zur Wehr
setzen».

BEWERTUNG: Diese Behauptungen widersprechen den Erkenntnissen von
Forschern weltweit. Sie werden auch durch die Berichte aus Ländern
widerlegt, in denen hohe Fallzahlen verzeichnet werden, etwa Italien.
Behördlichen Maßnahmen nicht Folge zu leisten, gefährdet die
Gesundheit und kann strafbar sein.

FAKTEN: Wer in den vergangenen Tagen Berichte aus Norditalien gelesen
hat, der weiß: Die Menschen in den Krankenhäusern von Bergamo oder
Brescia sterben nicht an Panik oder offenen Fragen, sondern in sehr
vielen Fällen an Covid-19. Wie hoch der Anteil von
Covid-19-Erkrankten ist, die daran sterben, lässt sich erst nach dem
Ende der Pandemie genau berechnen. Er dürfte nach Angaben der WHO bei
einigen Promille liegen, also wenigen Fällen von Tausend.

Das große Problem bei Covid-19 ist der verhältnismäßig hohe Anteil

Erkrankter, die intensivmedizinisch betreut werden müssen. Die
Fallzahlen sollen deshalb durch die aktuellen Vorkehrungen zu jeder
Zeit so gering wie möglich gehalten werden, um die Intensivstationen
zu entlasten. Der Virologe Stürmer hält - wie auch seine Kollegen -
das Vorgehen in der jetzigen Situation für angemessen. «Wenn wir
jetzt nicht aufpassen, bekommen wir auf den Intensivstationen
Verhältnisse wie zum Teil in Italien. Dann müssten Ärzte entscheiden,

wem sie ein Bett auf der Intensivstation geben und wem nicht.»

Gefährlich ist ein Aufruf dazu, sich gegen einen «unsinnigen»
Freiheitsentzug «zur Wehr zu setzen», übrigens nicht nur aus
gesundheitlichen Gründen. Wer sich einer Anordnung zur Quarantäne
oder einer eventuellen Ausgangssperre widersetzt, macht sich unter
Umständen strafbar.