Kramp-Karrenbauer zieht die Reißleine - und die CDU bebt Von Jörg Blank, Marco Hadem, Jörg Ratzsch und Andreas Hoenig, dpa

Die CDU steht nach der Rückzugsankündigung von Parteichefin
Kramp-Karrenbauer vor unruhigen Zeiten. Die Partei ist in einem
Dilemma. Viele strategische Fragen sind ungeklärt, es droht ein
Machtkampf. Wie geht es nun weiter?

Berlin (dpa) - Es sind dramatische Tage - und es ist eine extrem
gefährliche Lage für die CDU. Keine Woche nach dem politischen Beben
in Thüringen zieht CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer die
Reißleine und verzichtet auf eine Kanzlerkandidatur. Auch den
Parteivorsitz will sie abgeben. Etwas mehr als ein Jahr und zwei
Monate nach ihrer Wahl und mitten in der Legislaturperiode steht die
CDU und mit ihr die ganze Union vor stürmischen Zeiten: eine
Parteivorsitzende auf dem Rückzug, die Kanzlerkandidatenfrage
ungelöst.

Das gilt auch für das Verhältnis zur Linken und zur AfD - die mit
ihrem Coup bei der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen nun indirekt
für den Rückzug von «AKK» gesorgt hat. Auch der Richtungsstreit
zwischen Vertretern des Mitte-Kurses der damaligen CDU-Chefin und
Noch-Kanzlerin Angela Merkel und jenen, die auf eine stärkere
konservative Ausrichtung hoffen, ist ohne Entscheidung - knapp zwei
Wochen vor der Bürgerschaftswahl in Hamburg.

Kramp-Karrenbauer muss spätestens seit vergangener Woche über ihren
Rückzug nachgedacht haben. Schon als sie am Donnerstag in der
Thüringen-Krise zu den widerspenstigen Parteifreunden nach Erfurt
gefahren ist, war ihr wohl klar: Wer weiß, ob ich am Montag nicht
zurücktreten muss, wenn ich mich nicht durchsetzen kann. Seit Monaten
hat es in der Partei Zweifel an der Führungsstärke der Vorsitzenden
gegeben, vergangene Woche bekam die Kritik neue Nahrung. Dass es nun
so schnell mit dem angekündigten Rückzug gekommen ist, hat dann aber
doch wohl fast alle überrascht.

Wie geht es nun weiter? «Wir müssen aufpassen, dass wir jetzt nicht
abschmieren», sagt ein Präsidiumsmitglied besorgt. Die
chancenreichsten Nachfolger von «AKK» für Kanzlerkandidatur und damit

auch für den Parteivorsitz halten sich am Montag zunächst bedeckt -
Ex-Unionsfraktionschef Friedrich Merz, NRW-Ministerpräsident Armin
Laschet und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.

Merz, der Kramp-Karrenbauer Ende 2018 bei der Wahl zum Parteivorsitz
knapp unterlegen war, lässt sich zunächst nur zurückhaltend
vernehmen. «In so einer Situation ist kluges Nachdenken wichtiger,
als schnell zu reden», erklärt sein Sprecher. Dass Merz sich die
Kanzlerkandidatur zutraut und unbedingt auch will, gilt in Berlin als
offenes Geheimnis. Der Sauerländer gilt schon lange als
Hoffnungsträger für alle Konservativen in der Partei, die nicht mit
dem Mitte-Kurs der Kanzlerin zufrieden sind.

Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und als
stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender sowie Chef des größten
CDU-Landesverbands naturgemäß auch für den Vorsitz der Bundespartei
gut, wird am Montag zunächst von Orkan «Sabine» ausgebremst. Nachdem

Züge ausfielen und Flüge gestrichen waren, schafft er es nicht aus
seiner Heimatstadt Aachen nach Berlin.

Doch wie Laschets Chancen auf Kanzlerkandidatur und Vorsitz in der
für die Partei extrem gefährlichen Lage sind, ist offen: Aus der CSU
war lange Zeit zu hören, Laschet fahre ja einen noch stärkeren Kurs
der Mitte als Merkel, da könne man doch besser mit Kramp-Karrenbauer
leben. Auf der anderen Seite heißt es auch unter Mitgliedern der
CDU-Spitze, Laschet könne das Land vor weiterer Spaltung bewahren.

Spahn gibt sich am Montag beim Eintreffen am Berliner Adenauerhaus
staatstragend. In Thüringen habe Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow
bis heute keine Mehrheit, das Problem liege tiefer: Die Lage in
Erfurt sei Symptom dafür, «dass die Radikalen immer mehr den Diskurs
bestimmen, im Ton und bei den Themen». Die bürgerliche demokratische
Mitte sei zu oft in der Defensive und verliere an Bindekraft, die
Bürger verlören Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates.

Es gehe nun darum, eine Staatskrise abzuwenden, und um die
Handlungsfähigkeit der Politik, deswegen müsse Ramelow den Weg frei
machen für einen überparteilichen Kandidaten, so Spahn - allerdings
gibt es auch andere Stimmen in der Partei, die dafür sind, dass die
CDU in Thüringen eine Regierung mit Beteiligung der Linkspartei unter
Umständen toleriert.

Die CDU ist hier also in einem Dilemma - wie auch in einer anderen
Frage, auf die Spahn verweist: Die Trennung von Parteiführung und
Kanzleramt sei eine schwierige Situation gewesen, betont Spahn, der
Ende 2018 ebenfalls gegen Kramp-Karrenbauer unterlegen war. Der
Zusammenhalt der Partei müsse nun die Leitschnur sein.

Auch Kramp-Karrenbauer macht am Morgen um kurz nach 9.00 Uhr schon
ziemlich am Anfang ihrer Rede vor dem sprachlosen Parteipräsidium
klar: Es sei offensichtlich, dass Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur
in eine Hand gehörten. Sie will in den nächsten Monaten den Prozess
der Suche nach einer Kanzlerkandidatin oder einem Kanzlerkandidaten
führen, gemeinsam mit CSU-Chef Markus Söder.

«AKK» hatte Söder dem Vernehmen nach bereits am frühen Montagmorgen

telefonisch über ihre Pläne informiert - ob er daraufhin versucht
hat, sie noch einmal umzustimmen, ist aber nicht überliefert. Söder
zeigt später auf Twitter «großen Respekt» für ihre Entscheidung -

gibt der CDU aber zugleich mahnende Worte mit auf den Weg: Es sei nun
notwendig, die «inhaltliche und personelle Aufstellung» der CDU
grundsätzlich zu klären.

Söders Aussagen gelten nicht nur der Hoffnung, die zerfahrene Lage
bei den Christdemokraten wegen der Thüringer Regierungskrise zu
beruhigen. Er weiß auch, dass seine CSU nur mit einer starken CDU im

Bund erfolgreich bleiben kann. Die derzeitige «SPD-isierung der CDU»,
wie einige in der CSU die permanenten Machtkämpfe bei der
Schwesterpartei nennen, sorgt schon länger in München für
Sorgenfalten. Söder muss aber auch ein Signal an seine eigenen Partei
schicken, denn längst sorgt man sich in der CSU vor einer Ansteckung.

Kramp-Karrenbauer jedenfalls, so ist aus ihrem Umfeld zu hören, habe
unbedingt vermeiden wollen, dass es ihr so geht wie im vergangenen
Jahr der damaligen SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzenden Andrea
Nahles. Die hatte sich für ihre Partei bis zur Erschöpfung ins Zeug
gelegt - und war dann vor allem von den Männern in ihrer Partei vom
Hof gejagt worden. Den «Nahles-Effekt» vor Augen - eine
Abwärtsspirale, aus der sie sich kaum mehr würde befreien können -
hat sich «AKK» nun entschlossen, die Reißleine zu ziehen.

Die Kanzlerin kam am Montag erst um 9.08 Uhr in die Parteizentrale.
Sie hatte in den vergangenen Tagen schon während ihrer Afrika-Reise
den Kurs der CDU in der Thüringen-Krise bestimmt. Vom
südafrikanischen Pretoria aus hatte sie kritisiert, die Wahl des
FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit Hilfe von
AfD und CDU sei «unverzeihlich», der Vorgang müsse rückgängig gem
acht
werden. Und auch im Koalitionsausschuss nahm sie am Samstag die Dinge
in die Hand und organisierte eine Einigung mit den beiden neuen
SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans - von
Kramp-Karrenbauer war da schon nichts mehr zu hören.