Glücksspiel ums Leben: Medikament für todkranke Babys wird verlost Von Christiane Oelrich, dpa

Es gibt Babys mit einer lebensbedrohenden Erbkrankheit. Und ein neues
sündhaft teures Medikament, das ihr Leben retten kann. Der Hersteller
verlost es jetzt für 100 Kinder. Ist das großzügig oder perfide?

Basel (dpa) - Für die verzweifelten Eltern todkranker Babys ist eine
neue Gentherapie ein Hoffnungsschimmer in dunkelsten Zeiten. Aber
was, wenn das Mittel noch nicht zugelassen ist, wenn es mit zwei
Millionen Euro pro Dosis das teuerste Medikament der Welt ist? Der
Schweizer Pharmahersteller Novartis verlost ab Montag (3. Februar)
Behandlungen für 100 Säuglinge und Kleinkinder bis 2 Jahren. Bewerben
konnten sich Familien aus aller Welt, deren Kind an spinaler
Muskelatrophie (SMA) leidet, und bei denen keine andere Therapie
hilft. Ist das eine Überlebenslotterie, wie Kritiker sagen?

Marina Mantels Sohn Michael wird 2018 mit SMA geboren. «Sechs Wochen
dachten wir, er wäre kerngesund, dann bewegte er sich plötzlich nicht
mehr», erzählt sie der Deutschen Presse-Agentur. Im Krankenhaus dann
die niederschmetternde Diagnose: SMA. Die Familie ist am Boden
zerstört. Dann bekommt Michael das erst 2017 zugelassene
SMA-Medikament Spinraza der US-Firma Biogen. Es hilft vielen, aber
nicht Michael. «Er bekam Lungenprobleme, konnte Schleim kaum
abhusten», sagt Mantel. Knapp 50 Kinder werden in Deutschland wie
Michael mit der schlimmsten Form von SMA im Jahr geboren.

Dann hört Mantel von Zolgensma von Novartis, das im Mai 2019 in den
USA zugelassen wird. Sie kämpft, will eine Härtefallausnahme, wird
abgelehnt, startet eine Spendenaktion, dann lenkt ihre Krankenkasse
doch ein. Michael bekommt das Medikament im September 2019
ausnahmsweise, obwohl es noch nicht zugelassen ist. «Es geht ihm gut,
er kann sich jetzt selbstständig umdrehen, er kann sitzen», sagt sie
heute. An eine solche Entwicklung sei vorher nicht zu denken gewesen.

«Andere Eltern sind auch verzweifelt und kämpfen», sagt Mantel. Sie
kritisiert, dass die Zulassung von Zolgensma in Europa auf sich
warten lässt. «Natürlich ist eine Lotterie nicht richtig, aber
wenigstens macht Novartis irgendetwas», sagt sie.

Rund 200 kleine Patienten wurden in den USA bislang mit Zolgensma
behandelt. Auf das Losverfahren kam Novartis nach eigenen Angaben mit
einem Ethikrat, weil es die Therapie weltweit so schnell wie möglich
zur Verfügung stellen wollte, sagt eine Novartis-Sprecherin.

Nur fragen Betroffene: Warum stellt Novartis nicht statt 100
Behandlungen für knapp zwei Millionen Euro pro Dosis 1000
Behandlungen zu einem niedrigen Preis bereit? Die
Herstellungskapazitäten seien begrenzt, sagt die Sprecherin. Mehr als
100 Dosen könne das einzige Werk in Illinois in den USA in diesem
Jahr nicht zusätzlich zu den erwarteten Bestellungen liefern.

Für den Preis pro Dosis waren die Kosten für das andere Medikament
für SMA-Kinder ausschlaggebend, sagt Dave Lennon, Chef des
Herstellers AveXis, der zu Novartis gehört. Zolgensma, das nur einmal
verabreicht wird, sei über zehn Jahre gerechnet halb so teuer wie
Spinraza, das alle vier Monate gespritzt werden muss.

Um allen Patienten eine faire Chance zu geben, sei nur das
Zufallsprinzip in Frage gekommen, so die Novartis-Sprecherin. «Es ist
ein Dilemma», räumt sie ein. «Wir haben einfach nicht so viele Dosen

zur Verfügung wie wir gerne hätten. Bei aller Kritik an diesem
Verfahren mangelt es vorerst an Alternativvorschlägen.»

Der Medizinethiker Norbert W. Paul widerspricht. Ethischer wäre es
gewesen, klare Kriterien als Voraussetzung für die Verabreichung des
Medikamentes festzulegen, sagt der Professor der Universitätsmedizin
Mainz. Zum Beispiel, ob es für die Kinder alternative Therapien gebe,
ob eine Klinik in der Nähe sei, die mit Gentherapie umgehen könne, ob
eine Nachsorge und im Notfall auch eine Krisenversorgung möglich sei.

Das Losverfahren lehnt er ab. «Novartis unterläuft mit dieser Abgabe
aus Mitleid die Zulassung, um einen Fuß im Markt zu haben und so
Druck zu machen, dass die Zulassung gar nicht mehr erforderlich zu
sein scheint», sagt er. Es sei wie eine verdeckte Marketingkampagne.
Es entstehe der Eindruck, als handele es sich bei dem Medikament um
eine Zauberkugel, und als sei die Standardtherapie mit Spinraza
schlechter oder eine Billigvariante. «Dem ist ja gar nicht so»,
betont Paul. «Aber natürlich greifen verzweifelte Eltern nach jedem
Strohhalm. Um so bedenklicher ist eine Verlosung.»

Ablehnung kommt auch vom Bundesgeschäftsführer der Deutschen
Gesellschaft für Muskelkranke (DGM), Joachim Sproß. «Das ist eine
Dilemma-Situation auf Kosten der Eltern», sagt er. «Wenn jemand die
medizinische Indikation hat, muss er Zugang zu dem Medikament haben»,
verlangt er. Gesundheitsministerium, Zulassungsstellen, Ärzte und
Eltern müssten endlich an einen Tisch kommen, um den besten Weg nach
vorn zu finden. «Natürlich freuen wir uns grundsätzlich, dass es
Therapien gibt. Da hätte vor fünf Jahren noch niemand mit gerechnet.»


Am Montag zieht eine von Novartis beauftragte Forschungsorganisation
nun erstmals den Namen eines der Kinder, die die Behandlung gratis
bekommen sollen. Alle paar Wochen folgt eine weitere Ziehung. Wie
viele Bewerbungen eingegangen sind, sagt Novartis nicht. Wenn das
Heimatland des Kindes die Behandlung mit dem noch nicht zugelassenen
Medikament erlaubt und ein Behandlungszentrum da ist, kann Zolgensma
innerhalb von Wochen verabreicht werden.