Nur die Angst ist schneller als das Virus - China zieht die Notbremse Von Andreas Landwehr, dpa

China ergreift radikale Maßnahmen: 45 Millionen Menschen abgeriegelt,
Straßen gesperrt, Überlandverkehr gestoppt, Mundschutz vorgeschrieben
und «zentrale Quarantäne». Präsident Xi warnt vor «ernster Lage
».

Peking (dpa) - Noch vor einer Woche spielten Chinas höchste
Gesundheitswächter die Gefahr herunter. Die neue Lungenkrankheit sei
«vermeidbar und kontrollierbar», wurde beschwichtigt. Heute herrscht
praktisch Notstand, hat das neue Coronavirus fast jede Ecke des
Riesenreichs erreicht. Rund 45 Millionen Menschen - mehr als die
Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik - sind in 14 Metropolen
der Provinz Hubei weitgehend von der Außenwelt abgeschottet. Der Nah-
und Fernverkehr, Züge und Flüge - alles eingestellt. Die Polizei
stoppt Autos an Straßensperren. Beispiellose, drastische Maßnahmen,
die an Hollywood-Streifen über katastrophale Epidemien erinnert.

Bis Sonntag waren in China rund 2000 Infektionen bestätigt, die Zahl
der Todesopfer stieg auf 56. Selbst in Peking, Shanghai und großen
Provinzen wie Shandong, Shanxi und Hebei wurde der Überlandverkehr
mit Bussen ausgesetzt, um zumindest teilweise ein Einschleppen des
Virus zu verhindern. Wer kürzlich in Wuhan war, muss 14 Tage zur
medizinischen Beobachtung daheim bleiben. Die Provinz Guangdong
erließ für seine 113 Millionen Einwohner sogar die generelle Pflicht,
in Einkaufszentren, Hotels, Parks und anderen öffentlichen Orten
einen Mundschutz zu tragen.

Selbst in der fernen Hauptstadt trägt fast jeder eine Gesichtsmaske.
Freiwillig - obwohl es in Peking erst einige Dutzend Fälle gibt. Die
Angst ist schneller als das Virus. Zwar ist während des chinesischen
Neujahrsfestes immer wenig los, aber Pekings Straßen sind wie
ausgestorben. «Ich traue mich nicht vor die Tür», sagt die
Angestellte Zhang Li. «Aber wer raus geht, sollte zumindest eine
Atemmaske tragen.» Vorsichtshalber verschiebt die Hauptstadt auch den
Mitte Februar geplanten Beginn der Schulen, Universitäten und
Kindergärten nach den Neujahrsferien. Auf unbestimmte Zeit.

Wie groß die Gefahr eingeschätzt wird, demonstriert auch die
Verschiebung der nationalen Winterspiele, die eigentlich eine
wichtige Vorbereitung auf die Olympischen Winterspiele 2022 in Peking
werden sollten. Die radikalen Maßnahmen erinnern an die Sars-Pandemie
2003. Damals war der Ausbruch erst monatelang vertuscht worden, aber
am Ende wurde das ganze Land praktisch stillgelegt, was die tödliche
Lungenkrankheit unter Kontrolle brachte. Doch 800 Menschen starben.

Dass auch diesmal die Behörden zu langsam reagiert haben, wird selbst
der kommunistischen Führung in Peking bewusst. Aufgeschreckt hat
sicher auch die jüngste Erkenntnis, dass Infizierte schon in der
Inkubationszeit ansteckend sind, selbst wenn sie keine Symptome
zeigen. In einer ungewöhnlichen Krisensitzung des Politbüros am
Samstag, dem Neujahrstag, rief Staats- und Parteichef Xi Jinping die
lokalen Funktionäre auf, «energischere Maßnahmen» zu ergreifen.

Er warnte vor einer «ernsten Lage». Alle Ebenen von Partei und
Regierung müssten dem Kampf gegen das Virus «höchste Priorität»
einräumen, mahnte Xi Jinping. Auch müssten die Virus-Patienten in
«zentrale Quarantäne» an einem Ort kommen. Dafür werden in der
besonders schwer betroffenen Metropole Wuhan rund um die Uhr in
Schnellbauweise zwei Krankenhäuser gebaut. Sie sollen in ein bis zwei
Wochen fertig sein und mehr als 2000 Patienten Platz bieten.

Wird sonst in China jede Kritik «harmonisiert», das heißt zensiert,
sind jetzt durchaus Klagen über die langsame Reaktion zu lesen.
Prominentester Kritiker ist Hu Xijin, Chefredakteur der «Global
Times», die vom Parteiorgan «Volkszeitung» herausgegeben wird: «Ich

persönlich glaube, dass die Stadt Wuhan und die nationalen
Gesundheitsbehörden verantwortlich gemacht werden sollten.»

Kritik kommt auch von Ärzten der völlig überforderten Hospitäler in

Wuhan. Schon vor zwei Wochen sei die Zahl der Patienten gestiegen,
ohne dass lokale Funktionäre sie gemeldet hätten. «Als wir warnten
und Patienten und die Öffentlichkeit aufforderten, Atemmasken zu
tragen und überfüllte Orte zu meiden, haben sie es nicht ernst
genommen und gedacht, dass wir übertreiben», zitierte die Hongkonger
Zeitung «South China Morning Post» einen verärgerten Mediziner.

Es liegt in der Natur des kommunistischen Systems, dass unangenehme
Nachrichten lieber verschwiegen werden. Doch damit solle jetzt
Schluss sein, forderte selbst das Politbüro. Behörden sollten
Informationen «zeitgemäß, korrekt und transparent» veröffentliche
n,
um den Sorgen im In- und Ausland zu begegnen.

Den Unmut von ganz oben bekam umgehend der Chef des Gesundheitsamtes
der Fünf-Millionen-Metropole Yueyang, 230 Kilometer südlich von
Wuhan, zu spüren. Er wurde als erster gefeuert, weil er Informationen
über den Ausbruch des Virus in seiner Stadt zurückgehalten hatte.