Zwischen Leben und Tod - Bundestag gegen Revolution bei Organspende Von Jörg Ratzsch, Sascha Meyer und Basil Wegener, dpa

Der Ton ist leise, die Parteigrenzen sind aufgehoben. Fast andächtig
geht es im Bundestag zu bei der entscheidenden Debatte zur
Organspende. Von der Entscheidung zeigen sich Betroffene hinterher
aber bitter enttäuscht.

Berlin (dpa) - Barbara Backer muss schlucken, als das Ergebnis
bekanntgegeben wird. «Das ist eine Katastrophe», sagt sie den Träne
n
nahe. «Mir sterben die Menschen unter den Händen weg.» Von der
Besuchertribüne des Bundestags hat die 59-Jährige zuvor die Debatte
über die Zukunft von Organspenden in Deutschland verfolgt. Mehr als
zwei Stunden dauert sie. Nach monatelangen Diskussionen soll eine
Entscheidung in der so sensiblen Frage für Millionen Menschen her. Es
geht um Selbstbestimmung und Solidarität. Es geht um die heikle
Frage, ob es einen radikalen Neustart geben soll, um zu mehr Spenden
zu kommen.

Das Ergebnis ist dann klarer, als manche erwartet hatten. Mit 292 zu
379 Stimmen scheitert der Vorstoß einer Abgeordnetengruppe um
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der eine kleine Revolution
bedeutet hätte: Bisher sind Organentnahmen nur bei ausdrücklich
erklärtem Ja zulässig. Künftig sollte es umgekehrt sein: Alle sind
erst einmal Organspender, außer man sagt ausdrücklich Nein. Darauf
hat auch Barbara Backer gehofft, die 2004 eine Leber transplantiert
bekam. Sie setzt sich als Chefin des Vereins «Organtransplantierte
Ostfriesland» auch politisch für mehr Organspenden ein und betreut
Wartepatienten, Transplantierte, Angehörige und Freunde.

«Es fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht für diese Leute», sagt

auch Marius Schaefer. Der 19-jährige aus dem Sauerland sitzt mit
Mundschutz neben seinem Vater auf der Besuchertribüne des
Bundestages. Vater und Mutter hatten Marius als Elfjährigem das Leben
gerettet - jeder gab einen Teil der Lunge. Die vielen Betroffenen,
die auf ein Organ warten, hätten auf diesen Tag gebaut, sagt er
enttäuscht. «Das Recht auf Leben sollte deutlich mehr zählen, als das

Recht darauf, unversehrt begraben zu werden.»

Am Rednerpult werden Mahnungen und Warnungen laut - oft in
gegensätzlicher Stoßrichtung innerhalb einer Fraktion. So sagt der
FDP-Abgeordnete Hermann Otto Solms, der die Spahn-Lösung unterstützt:
«Auch das Recht auf Widerspruch ist gelebte Freiheit.» Seine
Fraktionskollegin Christine Aschenberg-Dugnus entgegnet: «Das
missachtet unseren gesellschaftlichen Konsens, dass Schweigen niemals
als Zustimmung gewertet werden kann.»

Der Vorgänger von Spahn im Gesundheitsressort, Hermann Gröhe (CDU),
mahnt: «Jeder Mensch hat ein Selbstbestimmungsrecht.» Das Recht auf
körperliche Unversehrtheit dürfe nicht erst durch einen Widerspruch
aktiviert werden. Spahn räumt ein, es sei eine Zumutung, wenn man
widersprechen müsste, wolle man nicht Organspender sein. Die sei aber
eine Zumutung, «die Menschenleben rettet».

Die Mehrheit bekommt der ebenfalls fraktionsübergreifende Vorschlag
einer anderen Gruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Demnach
sollen alle Bürger mindestens alle zehn Jahre beim Ausweisabholen auf
das Thema Organspende angesprochen werden. Sie sollen sich dann auch
- was aber keine Pflicht sein wird - in ein neues Online-Register
eintragen können. Es bleibt aber dabei: Wenn sie Organspender sein
wollen, müssen die Bürger selbst aktiv werden und diesen Willen
bekunden.

Die Atmosphäre im voll besetzten Bundestag ist an diesem Donnerstag
fast andächtig. Von den 24 Rednern hat jeder fünf Minuten Zeit. Beide
Seiten argumentieren grundsätzlich, ethisch, rechtlich. «Das, was ich
will, das mir selbst zugute kommt, muss ich auch bereit sein, anderen
zu geben», sagt Karl Lauterbach von der SPD, der mit Spahn schon
jahrelang im Bundestag über Gesundheitspolitik verhandelt hat und in
dieser Frage mit ihm einer Meinung ist. «Das ist in der Tradition der
Aufklärung.» Dieses Modell gebe es in vielen anderen europäischen
Ländern, wo es auch zu mehr Organspenden komme.

«Man verkennt damit die Realität hier bei uns in Deutschland»,
entgegnet Baerbock. So könnten in anderen Ländern Organe auch bei
einem Herztod entnommen werden, nicht nur bei Hirntod wie in
Deutschland. Und vor allem gelte in Deutschland das Grundgesetz - und
daraus abgeleitet das Recht auf Selbstbestimmung. «Eine Spende muss
eine Spende bleiben - ein aktiver, freiwilliger und selbstbestimmter
Akt von Menschen, die in einem Höchstmaß von Solidarität anderen
Menschen etwas geben.» Schweigen dürfe niemals als Zustimmung
gewertet werden - so argumentieren die Befürworter des Entwurfs, der
am Schluss die Mehrheit bekommt.

Besonders ruhig wird es immer dann, wenn die Abgeordneten von
Betroffenen berichten. Über den einjährigen Daniel in München, der
schon seit 420 Tagen auf ein Spenderherz wartet. Oder über das
neunjährige Mädchen, deren Leben und das ihrer Familie sich seit fast
zwei Jahren in dem winzigen Umkreis rund um die Herzmaschine in einer
Hamburger Klinik abspielt.

Als die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann auf einen ehemaligen
Mitarbeiter zu sprechen kommt, kann man fast eine Stecknadel fallen
hören: Gerade 33 Jahre alt und frisch Vater geworden, habe dieser
eine lebensgefährliche Diagnose bekommen. Er hat dann drei Monate
lang auf den lebensrettenden Anruf für eine Organspende gewartet.
«Aber der Anruf kam nicht.» Der Mann starb. «Deswegen bitte ich
inständig heute für diese Lösung zu stimmen - für alle die noch
warten», sagt sie in die Stille des Plenums hinein.

Die von Connemann favorisierte Widerspruchslösung kommt nun nicht.
Lauterbach rechnet damit, dass die Debatte darüber in ein paar Jahren
wieder geführt werden wird, weil seiner Ansicht nach mit der jetzt
gefundenen Lösung «die Spenderzahlen nicht besser werden». Doch wer
weiß. Spahn zeigt sich versöhnlich: «Ich würde gern eines Bessere
n
belehrt werden, dass es uns gelingt, tatsächlich die Zahl der
Organspenden signifikant zu erhöhen.»