Kommt der radikale Neustart bei Organspenden? Von Sascha Meyer und Basil Wegener, dpa

Der Bundestag entscheidet über eine Frage von Leben und Tod. Es geht
um die Überlebenschancen vieler verzweifelter Menschen. Soll dafür
jeder, der nicht widerspricht, zum möglichen Organspender werden?

Berlin (dpa) - Das Ziel ist klar: Angesichts Tausender todkranker
Menschen auf den Wartelisten sollen in Deutschland dauerhaft mehr
Organe gespendet werden. Doch wie soll das gelingen? Nach
monatelangen Diskussionen will der Bundestag am Donnerstag die
Grundsatzfrage klären, ob dafür ein radikaler Neustart kommen soll,
wie ihn eine Abgeordnetengruppe um Gesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) will. Oder ob mehr Nachdruck im bestehenden Rahmen reicht.

Was ist das Problem?

Mehr als 9000 Menschen in Deutschland warten auf Organe. Für sie geht
es um Leben und Tod. Und jeder kann ja in diese Situation kommen.
Doch nur 40 Prozent haben laut einer Umfrage im Auftrag der Techniker
Krankenkasse einen Spendeausweis, auf dem man Ja oder Nein ankreuzen
kann. Dabei haben 84 Prozent generell eine positive Einstellung dazu.
Obwohl die Kassen regelmäßig Vordrucke durch die Republik schicken,
schieben viele eine Festlegung immer wieder vor sich her. Und ohne
ausdrücklich erklärtes Ja dürfen keine Organe entnommen werden. 

Was können Vorbehalte sein?

Für Organspenden muss der Tod zweifelsfrei sein: Dafür müssen zwei
Fachärzte unabhängig voneinander den vollständigen und unumkehrbaren

Ausfall des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms bestätigen.
Manche machen sich Sorgen, dass der Tod zu früh festgestellt werden
könnte. Auch Organspendeskandale 2012 verunsicherten viele Leute. Es
ging um Manipulationen bei Wartezeiten für Transplantationen. Und
generell verhindert eine Spende, dass Angehörige im letzten Moment
dabei sein können. Hirntote sind noch warm, das Herz schlägt.

Wie haben sich die Zahlen entwickelt?

Alarmiert hat Ärzte und Politik der Tiefstand von 797 Spendern im
Jahr 2017. Womöglich auch angesichts der anziehenden Debatte gingen
die Zahlen dann aber herauf - im vergangenen Jahr überließen 955
Menschen nach dem Tod Organe für andere Patienten, etwas weniger als
2018. Jedoch waren es 2012 noch 1200 gewesen. Jeder Spender schenkte
zuletzt im Schnitt mehr als drei Schwerkranken neue Lebenschancen.

Was will die Gruppe um Spahn?

Das Prinzip der ausdrücklich nötigen Zustimmung umkehren will eine
Abgeordnetengruppe um Spahn und den SPD-Experten Karl Lauterbach. Sie
streben die «doppelte Widerspruchslösung» an, bei der automatisch
jeder Spender wäre - außer man widerspricht ausdrücklich. Das soll
man jederzeit tun und es in einem neuen Register speichern lassen
können. Vor einer Transplantation müsste ein Arzt dort abfragen, ob
es eine Erklärung gibt. Ist das nicht der Fall und liegt auch sonst
kein schriftliches Nein vor, ist der nächste Angehörige zu fragen.
Aber nicht wie bisher nach einer eigenen Entscheidung - sondern nur,
ob er einen schriftlichen Widerspruch oder sonstigen Willen kennt.

Wie sollen ungewollte Spenden vermieden werden?

Dazugehören soll eine große Informationskampagne für die neue
Regelung. Außerdem soll jeder ab 16 Jahren dreimal direkt mit
Informationen angeschrieben werden. Kommen Minderjährige als Spender
infrage, soll eine Organentnahme nur zulässig sein, wenn die Eltern
zugestimmt haben. Bei Menschen, die die Tragweite einer solchen
Entscheidung nicht erkennen können - etwa wegen einer geistigen
Behinderung - sollen Organspenden grundsätzlich tabu sein.

Welchen Gegenvorschlag gibt es?

Eine andere Gruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock und die
Linke-Vorsitzende Katja Kipping warnt vor einem tiefen Eingriff in
die Selbstbestimmung. Sie schlägt daher vor, alle Bürger direkter
anzusprechen. Wer ab 16 Jahren einen Personalausweis beantragt, ihn
nach zehn Jahren verlängert oder sich einen Pass besorgt, soll auf
dem Amt Info-Material bekommen. Beim Abholen soll man sich auch schon
direkt vor Ort in ein neues Online-Register eintragen können - mit Ja
oder Nein, Änderungen jederzeit möglich. Auch in Ausländerbehörden

soll es so etwas geben. Selbst beraten sollen die Ämter aber nicht.

Wie will diese Gruppe die Spendebereitschaft noch erhöhen?

Für die Aufklärung sollen auch Hausärzte eine größere Rolle spiel
en.
Sie sollen Patienten bei Bedarf alle zwei Jahre über Organspenden
informieren und zum Eintragen ins Register ermuntern - aber
ergebnisoffen und mit dem Hinweis, dass es weiter keine Pflicht zu
einer Erklärung gibt. Grundwissen über Organspenden soll auch Teil
der Erste-Hilfe-Kurse vor einer Führerscheinprüfung werden.

Wie schnell kämen Änderungen überhaupt?

Beide Entwürfe sehen Übergangszeiten für Vorbereitungen vor. Die
Neuregelungen der Gruppe um Baerbock sollen zwei Jahre nach der
Verkündung eines Gesetzes in Kraft treten. Die Widerspruchslösung der
Gruppe um Spahn soll ab 1. Oktober 2022 greifen.

Was wurde zuletzt noch für mehr Organspenden getan?

Die bundesweit rund 1300 Kliniken, die Organe entnehmen, sollen mehr
Geld und Zeit dafür bekommen. Eine Gesetzesänderung dafür ist aber
erst im vergangenen Jahr in Kraft getreten. Eigens für
Transplantationen beauftragte Mitarbeiter sollen nun mehr Freiräume
haben. Kliniken werden für den Prozess von Organspenden besser
vergütet. Ein neuer Bereitschaftsdienst mit mobilen Ärzteteams soll
gewährleisten, dass die Voraussetzungen des Hirntods überall
festgestellt werden können.

Wie ist die Organspende in anderen Ländern geregelt?

Befürworter der Widerspruchslösung verweisen etwa auf Spanien, das
auf viel höhere Spenderzahlen kommt. Dort werden aber auch Spenden
nach Herztod einbezogen, wie die Deutsche Stiftung Patientenschutz
erklärt. In Frankreich, Belgien, Österreich, Tschechien und Polen
gilt ebenfalls die Widerspruchslösung. In Norwegen werden in der
Praxis Angehörige vor einer Entnahme gefragt, ob sich der Verstorbene
dagegen ausgesprochen hat. In Schweden muss der Verstorbene in der
Regel vor dem Tod zugestimmt haben. Sonst werden Angehörige gefragt.