Falscher Arzt wegen 88 Mordversuchen mit Stromschlägen vor Gericht Von Britta Schultejans, dpa

Nägel in Steckdosen, Elektroden an den Schläfen: Wozu ein falscher
Mediziner junge Mädchen gebracht haben soll, ist kaum zu glauben.
Wegen 88-fachen versuchten Mordes steht der Mann nun in München vor
Gericht. Auch sein mutmaßliches Motiv ist verstörend.

München (dpa) - Die Mädchen und jungen Frauen jagten sich bis zu 230
Volt durch den Körper. Sie schnitten Stromkabel ab und hielten sie an
ihre Füße, klebten sich Elektroden an die Schläfe, steckten Nägel i
n
Steckdosen oder fassten an Elektrozäune. Am Landgericht München II
hat am Dienstag ein aufsehenerregender Prozess begonnen. Ein 30 Jahre
alter Mann aus dem Raum Würzburg ist wegen versuchten Mordes an 88
Frauen und Mädchen angeklagt. Er soll sich als Arzt ausgegeben und
behauptet haben, wissenschaftliche Studien zur Schmerztherapie
durchzuführen. Per Videochat-Programm Skype brachte er - so die
Anklage - seine Opfer dazu, sich selbst lebensgefährliche
Stromschläge zuzuführen.

Er soll dafür jeweils Geld geboten haben - mal 200, mal 450 Euro,
sogar 1500 oder 3000 Euro. In manchen Fällen sollen sogar die Eltern
der Mädchen bei den angeblichen wissenschaftlichen Versuchen geholfen
haben. Ein Vater, so heißt es in der Anklage, versetzte seiner
Tochter demnach mehrfach Stromschläge mit einem Elektroschockgerät.

Die zuständige Staatsanwaltschaft München II spricht von einem
«ungewöhnlichen Fall» und das Gericht schloss die Öffentlichkeit
direkt zum Prozessauftakt für eine mögliche Einlassung des
Angeklagten, Zeugenaussagen der minderjährigen Opfer sowie die
Schlussplädoyers aus. Es folgte damit einem Antrag der Verteidigung.

Der Vorsitzende Richter begründete den Ausschluss damit, dass es um
das «Sexualleben» des Angeklagten und «intime Wünsche» gehe. Die

Anklage gehe von der «Befriedigung des Geschlechtstriebes» als
Mordmerkmal aus und von einer «fetischistischen Komponente» im
Tatmotiv. Laut Anklage soll es den Angeklagten sexuell erregt haben,
wenn eine Frau durch einen Stromschlag Schmerzen erleidet. «Sowohl
die Zufügung von Schmerzen mittels elektrischem Strom, als auch
nackte Füße an sich sowie Fesselungen sind ein Fetisch des
Angeschuldigten», sagte der Staatsanwalt.

Laut einem Bericht der Würzburger «Main-Post» geht die Verteidigung
dagegen davon aus, dass der Angeklagte psychisch krank ist und das
Asperger-Syndrom hat. Die Zeitung zitiert den Verteidiger Klaus
Spiegel. Es habe sich demnach um den «Versuch eines Kranken
gehandelt, mit der Umwelt zu kommunizieren». Zur Verteidigererklärung
mussten die Zuhörer den Gerichtssaal verlassen.

«Lebensgefährliche Bewerbung für einen Nebenjob», schrieb die
Polizei, als der Fall im vergangenen Jahr bekannt wurde. Denn
spätestens von 2014 an soll der IT-Fachmann, der mit Brille und im
schwarzen Kapuzenpullover zu seinem Prozess erscheint, Frauen und
Mädchen kontaktiert haben, die auf Portalen nach einem Nebenjob
suchten. Und den bot er ihnen an. Er versprach Geld für die Teilnahme
an einer wissenschaftlichen Studie zur Schmerztherapie. Mal gab er
sich als Arzt in einem Krankenhaus, mal als Mediziner einer
renommierten Universität aus. Sein jüngstes Opfer war laut Anklage
erst 13 Jahre alt.

Im Skype-Chat, so die Vorwürfe der Anklage, legte er den
Versuchsaufbau dar, «und forderte die vermeintlichen Probanden dann
jeweils auf, sich über das eine Spannung von 230 Volt führende
Hausstromnetz Stromschlägen auszusetzen». Über die Jahre wurden die
angeblichen Versuche aufwendiger. Ließ er am Anfang noch Nägel in
Steckdosen stecken, brachte er seine Opfer später dazu, Apparate mit
Löffeln zu bauen oder sich für die Stromschläge an einem Stuhl
festbinden zu lassen.

Die Videochats, die all das zeigten, zeichnete er nach Angaben der
Staatsanwaltschaft auf - um sie sich immer wieder ansehen und
außerdem im Darknet verkaufen zu können. Auf die Spur des
IT-Fachmanns aus dem Landkreis Würzburg kamen die Ermittler, nachdem
ein 16 Jahre altes Opfer des Mannes Anzeige erstattet hatte. Im
Februar 2018 wurde er festgenommen, bis Ende September 2019 saß er in
Untersuchungshaft, seither wird er in einem psychiatrischen
Krankenhaus behandelt. Beim Prozessauftakt sitzt seine Mutter «als
gesetzliche Betreuerin» neben ihm. Während der Verlesung der Anklage
fasst sie sich immer wieder an den Kopf.

120 Opfer aus ganz Deutschland sollen laut Polizei auf den
Informatik-Kaufmann hereingefallen sein. Dass nur 88 Fälle davon nun
angeklagt sind, liegt nach Angaben der Staatsanwaltschaft daran, dass
«in den weiteren untersuchten Fällen (...) eine Strafbarkeit nicht
gegeben oder nicht nachweisbar» sei.

Bei der Auswertung der sichergestellten Datenträger fanden sich nach
Polizeiangaben mehr als 200 Videoaufzeichnungen, die der
Festgenommene von seinen angeblichen Probanden angefertigt hatte.
Laut Polizei hatte der Mann bei den Verhören im vergangenen Jahr ein
«Teilgeständnis» abgelegt. Auch die Staatsanwaltschaft bestätigte,

dass er sich zu den Vorwürfen geäußert hat, ließ aber offen, wie.