Das Buch ist tot - oder doch nicht? Von Irena Güttel, dpa

Unsere Kinder daddeln nur noch am Smartphone und Computer. Lesen ist
ihnen zu langweilig. Das hört man immer wieder. Doch stimmt das
überhaupt?

Nürnberg (dpa) - Gebannt blicken die Kinder auf eine Leinwand, wo
Bilder aus Michael Endes Geschichte «Das Traumfresserchen»
aufleuchten. Vorhänge schirmen sie vom Trubel in der Bibliothek ab.
Im Dunkeln lauschen sie dem Text, den Erich Kriebel ihnen vorliest.
In der Nürnberger Stadtbibliothek ist an diesem Tag Bilderbuchkino.
Eins von vielen niedrigschwelligen Angeboten, um Kindern Bücher
schmackhaft zu machen, wie Bibliotheksleiterin Elisabeth Sträter es
nennt. «Das macht es Kindern, die nicht so leseaffin sind, leichter.»

Kinder und Jugendliche in Deutschland lesen heute zwar nicht weniger
als früher. Die Zeit, die sie mit Büchern verbringen, hat sich in den
letzten 20 Jahren nicht verändert. Trotz Smartphone. Trotz
Computerspielen. Doch nur ein Drittel der Kinder und Jugendlichen
liest täglich oder mehrmals die Woche. Vor allem Jungs interessieren
sich weniger für Bücher - was negative Folgen in der Schule haben
kann. Denn Lesen will gelernt sein. Und das fängt nicht erst in der
Grundschule an, wie Experten im Vorfeld des bundesweiten Vorlesetag
am 15. November betonen.

Eine ganz wichtige Rolle spielt der Umgang mit Büchern zuhause, da
sind sich Fachleute einig. «Wir wissen, dass die sprachliche Anregung
im Elternhaus einen wichtigen Einfluss hat», sagt Sascha Schroeder,
Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Göttingen
.
Vor allem beim Vorlesen förderten Eltern das Sprachvermögen und damit
die spätere Lesekompetenz ihrer Kindern. «Wichtig ist nicht unbedingt
der Inhalt der Bücher, sondern die Gespräche über das Gelesene, also

der Umgang mit Sprache und die Reflexion.»

15 Minuten - so lange sollten Eltern ihren Kindern täglich vorlesen,
empfiehlt die Stiftung Lesen. Doch davon sind wir in Deutschland weit
entfernt. Fast ein Drittel der Eltern lese nie oder selten vor, sagt
Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung
der Stiftung Lesen. «Wenig vorgelesen wird vor allem in Familien, wo
Eltern selbst nicht gut lesen können oder nicht gerne lesen. Die
Kinder bringen eine Bildungsbenachteiligung in die Schule mit, die
sie später schwer aufholen können.»

Einmal im Jahr, am dritten Freitag im November, richten die Stiftung
Lesen, die Wochenzeitung «Die Zeit» und die Deutsche Bahn Stiftung
deshalb den Vorlesetag aus. Damit wollen sie darauf aufmerksam
machen, wie wichtig Vorlesen ist - und wie viel Freude Bücher machen
können.

Verschiedene Bildungsstudien zeigen, dass ein beträchtlicher Teil der
Kinder, Jugendlichen, aber auch Erwachsenen nicht ausreichend lesen
kann. «Das lässt vermuten, dass es Menschen gibt, die nie zum Lesen
finden», sagt Ehmig. Auch das Geschlecht spielt dabei eine Rolle. Der
KIM-Studie 2018 zufolge, für die der Medienpädagogische
Forschungsverbund Südwest 1200 Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren
befragte, lesen fast 60 Prozent der Mädchen regelmäßig ein Buch, bei

den Jungen sind es nur rund 40 Prozent.

«Anfangen tut das Ganze schon mit der Motivation, in der Freizeit ein
Buch in die Hand zu nehmen», sagt der Nürnberger
Erziehungswissenschaftler Wolfgang Tischner. «Jungen lesen anders als
Mädchen.» Während sich Mädchen gerne in Charaktere einfühlen,
bevorzugen Jungen in der Regel Abenteuer- und Heldengeschichten mit
viel Action. Auch Comics interessieren sie meist mehr als Romane, und
Sachbücher, bei denen der Text mit Grafiken und Bildern aufgelockert
ist. Bleiwüsten schrecken Jungs eher ab.

In Kitas und Schulen wird das oft kaum berücksichtigt: Dort
dominierten Erzieherinnen und Lehrerinnen - und träfen unbewusst eine
eher weibliche Bücherauswahl, erläutert Tischner. Der
Erziehungswissenschaftler hat an der Technischen Hochschule Nürnberg
viele Jahre zur Leseförderung für Jungen geforscht. Inzwischen ist er
emeritiert, publiziert aber immer noch zum Thema. Seiner Erfahrung
nach fehlt es den Jungen an Rollenvorbildern, denn auch zuhause lesen
meist die Mütter vor. «Bei ihnen prägt sich ein: Lesen ist weiblich
»,
sagt Tischner.

Das bestätigt Erich Kriebel, bei der Nürnberger Stadtbibliothek
stellvertretender Leiter der Kinderbibliothek. Dass er und ein
anderer Kollege den Kindern beim Bilderbuchkino regelmäßig vorlesen
könnten, sei ein seltener Glücksfall. «In der Schule, in der
Buchhandlung, in der Bibliothek - überall, wo Jungs mit Büchern in
Kontakt kommen, sind hauptsächlich Frauen.» Dabei bräuchten gerade
sie Männer, die mit gutem Beispiel vorangingen.

«Etwa ein Drittel der Jungen sagt am Ende der Grundschule, dass Lesen
langweilig ist und keinen Spaß macht», sagt Kriebel. Ein Teufelskreis
- denn gut lesen kann man vor allem dann, wenn man viel liest.
Psychologe Schroeder sagt: «Das ist wie ein Muskel, der trainiert
werden muss.»