Kopfschmerzen - bei Kindern droht Teufelskreis Von Anja Sokolow, dpa

Schulstress, Mobbing, mangelnde Bewegung - die Ursachen für
Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen sind vielfältig. Seit
Jahren klagen immer mehr junge Menschen über Beschwerden, suchen aber
nur selten Ärzte auf. Das kann fatale Folgen haben.

Löningen/Dresden (dpa) - Wenn ihre Tochter Tabea anfängt zu blinzeln
oder ihr der Lärm ihrer Geschwister plötzlich zu viel wird, weiß
Kathrin Schenk Bescheid: Ein Migräneanfall ist im Anmarsch. «Meine
Tochter ist dann immer extrem licht- und geräuschempfindlich»,
erzählt die 38-jährige Mutter. Dem zehnjährigen Mädchen hilft dan
n
oft nur noch der Rückzug ins Bett, am besten bei abgedunkelten
Fenstern.

«Etwa alle zwei Wochen hat Tabea eine Migräne-Attacke», sagt die
Mutter. Und die Schülerin aus Löningen in Niedersachsen ist nicht
allein. «Mehr als zwei Drittel aller Schulkinder haben regelmäßig
Kopfschmerzen», berichtet die Dresdner Neurologin Gudrun Goßrau. Der

Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Kopfschmerzen nehme
seit Jahren zu. «Mehr Kinder erreichen heute eher die
Kopfschmerzhäufigkeiten, die normalerweise erst Erwachsene bekommen.»

Bei einer Befragung von Schülern in Dresden gaben laut Goßrau fast 37

Prozent der 2700 Mädchen und Jungen an, einmal pro Monat
Kopfschmerzen zu haben, und fast 32 Prozent, dass dies mehr als
zweimal im Monat vorkomme. «Auffällig war dabei, dass nahezu alle
Kinder, die nur einmal im Monat Kopfschmerzen aufwiesen, und etwa 80
Prozent derjenigen, die mehr als zweimal im Monat Kopfschmerzen
hatten, keinen Arzt aufgesucht hatten», so Goßrau. 

Die jungen Patienten können laut Goßrau leicht in einen Teufelskreis
geraten: «Schulfehltage können zu Leistungsabfall, Schulversagen und

Schulangst führen. Viele Betroffene isolieren sich sozial, auch
seelische Erkrankungen können häufiger vorkommen», warnt die Ärztin
.
«Nur die wenigsten Kopfschmerzpatienten suchen aber auch einen Arzt
auf», kritisiert die Expertin. «Kopfschmerzen werden in unserer
Gesellschaft oft nicht als «echte» Krankheit wahrgenommen. Die
betroffenen Kinder fallen selten auf, sie sind nicht laut und
aggressiv.»

Auch eine im Juni veröffentlichte Studie des Deutschen
Kinderschmerzzentrums an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik
Datteln (Nordrhein-Westfalen) zeigte, dass chronische Kopfschmerzen
bei Schülern weit verbreitet sind. Mehr als jeder vierte Schüler (27
Prozent) berichtete, mindestens einmal im Monat Kopfschmerzen zu
haben. Mädchen waren mit 35 Prozent viel häufiger betroffen als
Jungen (18 Prozent).

Kopfschmerz ist dabei nicht gleich Kopfschmerz: Nach Schätzungen der
Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft(DMKG) hat etwa jedes
zehnte Kind Migräne. Die vererbbare neurologische Erkrankung kann
zahlreiche Symptome haben - neben heftigen Kopfschmerzen auch
Sehstörungen, Übelkeit und Erbrechen. Verbreiteter seien unter
Kindern und Jugendlichen aber sogenannte Spannungskopfschmerzen.

Als Hauptursache dafür gelten verspannte Muskeln im Schulter- und
Nackenbereich. Aber auch verstärkter Medienkonsum, eine
komprimiertere Wissensvermittlung in der Schule, seelischer Stress
etwa durch Mobbing und körperliche Inaktivität gelten als
Risikofaktoren. «Wer in der Schule und auch in der Freizeit viel
sitzt und aufs Handy oder den Computer schaut, der hat mehr Chancen,
mit Kopfschmerz zu reagieren als jemand, der regelmäßig rausgeht und
körperlich aktiv ist», erklärt Goßrau.

Migräneattacken lassen sich den Experten zufolge zwar nicht gänzlich
ausschalten. Betroffene können aber dafür sorgen, dass sie seltener
auftreten - indem sie Stress vermeiden, sich viel bewegen und einen
regelmäßigen Tagesablauf beachten. «Auch bei Migräne hilft
regelmäßiges Ausdauertraining etwa zwei bis drei Mal die Woche. Es
hat eine gewisse Ablenkungsfunktion und reduziert Stressoren», so
Goßrau.

Weil es viele Auslöser und Ursachen für Kopfschmerzen gibt, hat
Goßrau zusammen mit Kollegen ein interdisziplinäres Programm
entwickelt, das dem Problem auf verschiedenen Wegen begegnet - unter
anderem mit Therapien zu körperlicher Aktivierung, Stressbewältigung
und Entspannungstechniken.

Kathrin Schenk versucht, ihrer Tochter einen möglichst stressfreien
und geregelten Tagesablauf zu bieten. Bei Migräneanfällen bleibt
Tabea zu Hause. «Wir arbeiten den Stoff aus der Schule später nach.
Das klappt bis jetzt ganz gut», so die Mutter. Die Lehrer hätten
dafür allerdings leider kein Verständnis. «Sie erwarten, dass Tabea

trotz Migräne zur Schule kommt.» Sie wisse aber als ebenfalls
Betroffene aus eigener Erfahrung, wie sich die Krankheit anfühle und
stehe voll hinter ihrer Tochter.

Speziell an Schüler, Lehrer und Eltern richtet sich seit 2015 das
Präventionsprogramm «Aktion Mütze - Kindheit ohne Kopfzerbrechen».

Ziel ist es, zu informieren, für die Risiken eines unreflektierten
Medikamentengebrauchs zu sensibilisieren, Kopfschmerzen vorzubeugen
und die Ursachen anzugehen. Denn den Initiatoren zufolge greifen
Schüler viel zu häufig zu Medikamenten.

Laut Mitinitiatorin Karin Frisch haben bereits 110 000 Schüler an dem
Programm teilgenommen. Die Begleitforschung zeige, wie viel das
Programm bringe: Sechs Monate nach der Unterrichtseinheit hätten sich
die Beschwerden bei zwei Dritteln der kopfschmerzbetroffenen Schüler,
die das erworbene Wissen anwenden, verbessert.