Ein Schatz aus Knochen - Grabung in Österreich soll Forschern helfen Von Matthias Röder, dpa

Gleich unter dem Asphalt lagen die Toten. Mehr als 22 000 Skelette
haben Archäologen in St. Pölten in Niederösterreich geborgen. Dank
ihrer Güte könnten die Knochen manche Forschung beflügeln.

St. Pölten (dpa) - Die letzten vier Skelette liegen neben den Mauern
römischer Ruinen. Dort wurden die Männer oder Frauen vor rund 1000
Jahren bestattet. Ihre Bergung ist der Abschluss einer fast
zehnjährigen Grabungsaktion, die ihresgleichen sucht. «Wir haben
jetzt genau 22 134 Skelette gefunden», sagt Stadtarchäologe Ronald
Risy. Unter dem Domplatz von St. Pölten in Österreich waren die
Forscher auf einen Friedhof ungeahnten Ausmaßes gestoßen.

Zwischen dem 9. Jahrhundert und 1779 - von da an mussten auf Weisung
von Kaiser Joseph II. die Toten außerhalb der Stadt bestattet werden
- wurden die Leichen dort meist ohne viel Aufhebens auf einer Fläche
von der Größe eines mittleren Fußballfelds verscharrt. Die jetzt
angehäufte Skelett-Sammlung gilt in Umfang und Güte als einzigartig.
«Es ist ein Bio-Archiv, das sonst keiner hat», so Risy.

Dank der günstigen Eigenschaften des Bodens seien die Knochen in
einem ausgezeichneten Zustand, sagt Fabian Kanz vom
Fachbereich Forensische Anthropologie der Medizinischen Universität
Wien. «Das ist ein Schatz», so der Anthropologe über den nun
möglichen Blick auf ein lokales Zeitfenster von rund 1000 Jahren.

DNA, Proteine, Spurenelemente und Isotope seien gut konserviert - und
könnten nun möglicherweise Antworten auf viele Fragen zu den
Lebensumständen, den Krankheiten, der Anpassung an verregnete
Jahrzehnte oder viele heiße Sommer liefern. Die Knochen und ihre noch
verborgenen Botschaften könnten sogar Bausteine liefern für die
Entwicklung neuer Medikamente und Therapieansätze, hofft Risy.

Eine Streitfrage der Medizingeschichte ist laut Kanz nun mit Hilfe
eines Funds endgültig entschieden. Ein etwa siebenjähriges Kind war
schon im Mutterleib mit der Syphilis infiziert worden und entwickelte
die für die Geschlechtskrankheit typischen Zahnmissbildungen. Da das
Kind mindestens 50 Jahre vor den Reisen von Christoph Kolumbus nach
Amerika gestorben sei, sei klar, dass Formen der Syphilis schon vor
der Rückkehr des Entdeckers in Europa existierten, so Kanz. Bisher
habe vielfach gegolten, «dass die Besatzung von Kolumbus als Patient
Null die Krankheit aus Amerika mitgebracht hat», so der Osteologe.

Am Anfang der Grabung stand der Wunsch der Stadt, den als Parkplatz
genutzten Domplatz attraktiver zu machen. Erste Arbeiten bestätigten,
was frühere Sondierungsgrabungen schon signalisierten: Das Ganze wird
ein Fall für die Archäologen. «Wer zerstören möchte, muss die Gra
bung
zahlen», sagt Risy. Aus geplanten drei Jahren wurden zehn. Die Stadt
hat das Projekt laut Risy rund zehn Millionen Euro gekostet, die
angesichts des wissenschaftlichen Werts aber ohne Murren gezahlt
worden seien.

Abgesehen von den Skeletten wurden auch Glas, Keramik und Tausende
Münzen sowie mehr als 11 000 Metallgegenstände wie Fibeln, Ringe,
Gürtelschnallen und Anhänger gefunden, die nun in 900 Kartons lagern.
Überreste von Särgen gibt es kaum, meistens wurden die Toten nur in
Leinentücher gewickelt.

Auffällig sei der hohe Kinderanteil unter den Funden menschlicher
Überreste, meint Risy. Etwa die Hälfte der Toten habe das
Erwachsenenalter nicht erreicht. Ein signifikanter Überschuss sei für
die Altersgruppe der Zehn- bis 14-Jährigen festzustellen, sagt Kanz.
Dies deute darauf hin, dass Eltern aus ländlichen Regionen ihren
Nachwuchs zum Arbeiten in die Stadt geschickt hätten.

Besonders aufschlussreich könnte für die Forscher die Untersuchung
der Zähne sein. «Der Zahnstein ist ein Bakterienfriedhof im Mund, der
Auskunft gibt über die Krankheitserreger», so Kanz. Bei Analysen des
Zahnschmelzes sei aufgefallen, dass bestimmte Entzündungsproteine im
Mittelalter nicht auftauchten, davor und danach aber schon.
Krebsarten wie Brust- und Prostatakrebs waren laut Kanz auch damals
verbreitet.

Aktuell lagern die Gebeine in einem Gebäude am neuen Friedhof der
55000-Einwohner-Stadt. Aus dem Provisorium soll - wenn es nach dem
Willen von Risy geht - ein modernes Beinhaus mit Andachtsbereich und
Besucherzentrum werden. Aus Gründen der Pietät wären dann die Knochen

in einem eigenen Raum gelagert, der nur durch ein Fenster einsehbar
sein solle, meint Risy. Zugang hätten nur die Wissenschaftler.