Die ungeliebte Halbzeitbilanz - und ihre brisanten Folgen Von Basil Wegener und Ruppert Mayr, dpa

Nüchtern und buchhalterisch stellt sich die Bundesregierung ein
Zwischenzeugnis aus. Es zeigt auch, was Union und SPD noch wollen.
Aber brisanter und aufschlussreicher ist, was nicht drinsteht.

Berlin (dpa) - Kanzlerin und Vizekanzler stellen die Halbzeitbilanz
der Bundesregierung eher beiläufig vor. Nicht einmal eine eigens
dafür einberufene Pressekonferenz halten sie für nötig. Angela Merkel

und Olaf Scholz nutzen die Übergabe des Jahresgutachtens der
«Wirtschaftsweisen» im Kanzleramt, um so nebenbei ein paar Sätze zur

Halbzeit zu verlieren. Selbstverständlich sind Koalition und
Regierung «arbeitsfähig und arbeitswillig», versichert die Kanzlerin.


Zuerst hat die morgendliche Ministerrunde das nüchterne Werk ohne
Tamtam durchgewunken. «Es war Gegenstand im Kabinett und wurde von
allen zur Kenntnis genommen», so Regierungssprecher Steffen Seibert.
Nun sagt Merkel: «Von 300 Großmaßnahmen, die wir uns vorgenommen
haben, haben wir zwei Drittel auf den Weg gebracht oder schon
vollendet.» Scholz ergänzt: «Gleichzeitig wird sichtbar, es ist von
dem, was wir uns vorgenommen haben, noch was zu tun.»

Die Halbzeitbilanz im Koalitionsvertrag festzuschreiben, habe zum
schnellen Abarbeiten der Vorhaben beigetragen, so der
SPD-Vizekanzler. Spielfreude für die zweite Halbzeit sieht anders
aus. Nicht einmal mehr die Sozialdemokraten scheinen glücklich, das
Zwischenzeugnis erzwungen zu haben. Damals schien sie der SPD nötig,
um die Zustimmung der Parteibasis zur Weiterführung der ungeliebten
großen Koalition zu bekommen. Heute baut sie bei manchen Vorhaben so
viel Druck auf, dass schnell die Grundsatzfrage nach dem Fortbestand
der Koalition gestellt wird - zuletzt bei der Grundrente.

Nun kommt die Bilanz ausgerechnet, als es gewaltig knirscht. In der
CDU sind viele nicht damit zufrieden, dass es eine Grundrente ohne
eine umfassende Prüfung der Bedürftigkeit geben soll. Der Koalition
blieb nun nichts anderes übrig, als das Prestigeprojekt der SPD unter
«Was wir noch vorhaben» aufzulisten - auf der 50. von 84 Seiten. Von
«Bedürftigkeitsprüfung» steht da nichts mehr - nur, dass die
Grundrente denen zugute kommen solle, «die sie brauchen». Schafft das
Bündnis beim Koalitionsausschuss am Sonntag eine Einigung? Zumindest
Merkel will dies - und warb in der Fraktion am Montagabend für einen
Kompromiss.

Vieles, was für die Koalition auch typisch ist, steht nicht in der
Zwischenbilanz. Etwa die vielen Krisensitzungen, nächtlichen Runden
wie etwa zum Klimapaket und Entscheidungen in letzter Minute.
Bezeichnend, dass die Groko die Klimaziele für 2020 schon früh
aufgegeben haben. Im Koalitionsvertrag hieß es noch, Union und SPD
wollten die Lücke «so schnell wie möglich» schließen. In den jü
ngsten
Klimaschutz-Beschlüssen ist nur noch vom Ziel für 2030 die Rede.

Auch vom Zoff, den es reichlich gab, kein Wort. Etwa, dass das
Bündnis schon einmal im Frühjahr 2018 fast an Horst Seehofers
Forderung nach einer Obergrenze für die Aufnahme von Asylbewerbern
gescheitert wäre. Und auch die seit Monaten andauernde
Selbstbeschäftigung der SPD nach dem Abgang von Partei- und
Fraktionschefin Andrea Nahles und der CDU mit ihrer heftig
umstrittenen Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer würde eigentlich zu
einem vollständigen Bild des Bündnisses gehören. Und würde wohl ein

anderes Licht auf die zwei Jahre werfen.

Doch die Halbzeitbilanz ist ja auch als buchhalterische Auflistung
angekündigt worden: Was wurde vom Koalitionsvertrag abgearbeitet -
was ist offen?

BEISPIEL FAMILIE UND BILDUNG

Weit vorne in der Zwischenbilanz der Koalition stehen die Wohltaten.
In der Familien- und auch Bildungspolitik hat die Koalition in den
ersten zwei Jahren viel Geld verteilt, was nun entsprechend
hervorgehoben wird: Mehr Kindergeld, höhere Kinderfreibeträge, höhe
re
Sozialleistungen für Kinder aus ärmeren Familien, Milliarden für die

Kitas, Milliarden für die Schulen, damit sie sich moderne Technik
zulegen, Fördergelder für Hochschulen und Forschung, die
Bafög-Erhöhung und die Einführung eines Mindestlohn für Azubis. Unt
er
anderem eine Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz und ein
Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung sind noch geplant.

BEISPIEL SOZIALES UND GESUNDHEIT

Vom Recht zur Rückkehr von Teil- auf Vollzeit bis zu mehr
Weiterbildung, von der wieder hälftigen Finanzierung der
Krankenkassen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer bis zu
Verbesserungen für die Krankenpflege. Gleichzeitig zählt die
Regierung sogar Dinge auf, die sie eigentlich gar nicht voll
verantwortet, etwa die Anhebung des Mindestlohns auf 9,35 Euro bis
2020. Hierfür ist eigentlich eine eigene Kommission zuständig.
Anderes hat die Regierung noch vor, etwa den Missbrauch bei
Befristungen von Arbeitsverträgen abschaffen.

WAS WOHL NICHT KOMMT

Ein heikler Punkt ist, ob die aufgezählten Vorhaben für eine zweite
Hälfte der Legislaturperiode reichen. Lieblingsprojekte von Teilen
der Union finden sich nicht in der Bilanz - wie eine Senkung von
Unternehmenssteuern oder die völlige Abschaffung des Soli. Und Dinge,
die der SPD besonders am Herzen liegen, sind auch nicht enthalten -
etwa eine Reform der Grundsicherung, so dass am Ende Hartz IV seinen
Schrecken für viele verliert. Es gibt eben etliche Punkte, bei denen
die Partner weit auseinanderliegen.

WAS DEN PARTNERN WICHTIG IST

Die Stärkung von Wachstum und Innovation angesichts der
Konjunkturschwäche - deutliche Signale in dieser Richtung sind vor
allem für den CDU-Wirtschaftsflügel in den kommenden Monaten zentral.
In der SPD erwarten viele deutliche Zeichen für mehr Gerechtigkeit.
Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Carsten Schneider meint, das
nun im parlamentarischen Verfahren befindliche Klimaschutzgesetz habe
eine größere Bedeutung als er noch zu Anfang der Wahlperiode gedacht
hätte. Reicht das der SPD-Basis?

Die SPD-Führung will ab Anfang nächster Woche die Halbzeitbilanz
analysieren, so dass der Parteitag am 6. bis 8. Dezember eine klare
Empfehlung zur Groko bekommt. «Insofern denke ich, kann man sehr
gelassen auch den weiteren Wochen entgegensehen», meint
Interimsparteichefin Malu Dreyer. Die Union beruhigt das nicht. Hier
fürchten viele, dass die SPD-Delegierten neue Forderungen aufstellen,
die CDU/CSU gehörig gegen den Strich gehen. Schon im
Grundrentenstreit hatten harsche Äußerungen aus der CDU vermuten
lassen, dass hier manche ein Aus des Bündnisses lieber früher aus
später hätten.