Gewerkschaftstanker vor Zeitenwende - Die Ära Bsirske endet Von Basil Wegener, dpa

Einschnitt bei Verdi: Frank Bsirske tritt ab - und hinterlässt seinem
Nachfolger große Fußstapfen. Dabei ist es schwer zu glauben, dass
«Mr. Verdi» die öffentlichen Bühnen tatsächlich ganz verlässt.


Berlin (dpa) - Zum Abschied hat Frank Bsirske noch einmal stundenlang
die große Bühne. Vor 1000 Delegierten des Verdi-Bundeskongresses in
Leipzig fächert der Kopf der Gewerkschaft an diesem Montag aktuelle
Entwicklungen des Gewerkschaftstankers auf - bis er bei der Wahl am
Tag darauf seinem designierten Nachfolger die Spitze überlässt, dem
15 Jahre jüngeren Frank Werneke. Schwer zu glauben ist, dass man von
dem 67-Jährigen künftig nichts mehr hören soll. Und spannend wird es

zu sehen, wie Werneke in Bsirskes Fußstapfen tritt.

Öffentlich ist Bsirske in den 18 Jahren an der Verdi-Spitze vor allem
als Streikführer im öffentlichen Dienst bekannt geworden - unter ihm
legte Verdi den Flugverkehr lahm, Kitas, die Müllabfuhr oder
Verkehrsbetriebe. Für sich und seine Gewerkschaft nimmt er aber auch
in Anspruch, Einfluss auf die Politik genommen und etwa die
Einführung des Mindestlohns mit erstritten zu haben. Er ist in
Talkshows um Argumente nicht verlegen, kann gepflegt mit Politikern
und Wirtschaftsführern umgehen, wirkt aber auch in der Pose des
Arbeiterführers inmitten streikender Beschäftigter authentisch.

«Zu behaupten, der Abschied würde mir leichtfallen, wäre gelogen»,

sagt Bsirske. Es sei aber die richtige Entscheidung - wie bereits vor
vier Jahren angekündigt. Als Chef der Gewerkschaft Öffentliche
Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) trug er zur Fusion von fünf
Einzelgewerkschaften zu Verdi 2001 maßgeblich bei. «Nicht wenige
waren skeptisch, ob diese Fusion überhaupt gelingt», sagt er. Doch
geschaffen worden sei «die starke Dienstleistungsgewerkschaft».

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte am Sonntagabend zur
Eröffnung des Verdi-Bundeskongress in Leipzig Bsirskes Leistung. Die
Schlagkraft von Verdi werde heute oftmals als selbstverständlich
betrachtet, aber das sei harte Arbeit - eben auch des Langzeitchefs -
gewesen. «Frank Bsirske war Verdi und Verdi war Bsirske», sagte
Steinmeier. Beide kennen sich seit rund 25 Jahren. «Wir hatten eine
persönlich freundschaftliche, politisch - will ich sagen - mitunter
intensive Beziehung», sagte der Bundespräsident.

Klassenkämpferische Vokabeln in freundlichem Tonfall sind ein
Markenzeichen Bsirskes, früher Personaldezernent von Hannover. Er ist
links - aber auch mit Konservativen kam er gut klar, etwa mit
CSU-Innenminister Horst Seehofer bei den Tarifverhandlungen für den
öffentlichen Dienst im vergangenen Jahr.

Dass Verdi unter Bsirske oft auf konfliktreichem Kurs steuert, liegt
auch an den vielfältigen und oft schwierigen Branchen, in denen seine
Großorganisation operiert. Eigentlich streikt die «Gewerkschaft der
1000 Berufe» von der Bankangestellten bis zum Sozialarbeiter immer
irgendwo. Geprägt ist der Dienstleistungssektor von oft
vergleichsweise geringen Löhnen. Wie seit Jahren bei Amazon wird oft
mit dem Ziel gestreikt, dass Mitarbeiter überhaupt in den Genuss
eines Tarifvertrags kommen oder nicht herausfallen.

Hunderttausende Mitglieder hat Verdi seit der Gründung verloren -
auch weil die Gründungsgewerkschaften viele nichtzahlende Mitglieder
hatten, die Verdi dann großteils verließen. Weiteren
Mitgliederschwund zu bremsen, wird Wernekes wohl größte Aufgabe.
Bsirske verweist auf massive Umwälzungen in den Branchen: «Der
Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst, bei Telekom und Post, im
Energiesektor und bei den Krankenkassen hat mehrere Hunderttausend
Arbeitsplätze gekostet, und das hält bis heute an.» Beschäftigung s
ei
auch aufgebaut worden - «aber sehr stark in Bereichen mit sehr viel
prekärer Beschäftigung und hohen Fluktuationsraten».

Im Gründungsjahr hatte Verdi noch 2,81 Millionen Mitglieder,
vergangenes Jahr waren es noch 1,97. Droht die Auszehrung? Bsirske
betont: «Wir haben in den vergangenen Jahren kontinuierlich unsere
Eintrittszahlen verbessert, auf 122 000 Eintritte im Jahr 2018.» Dies
könne Verdi dieses Jahr wieder erreichen. Doch er räumt ein:
«Zugleich könnten wir es auch in den kommenden Jahren mit hohen
Austrittszahlen zu tun haben.» Viele, die in den 1970er Jahren
eingetreten sind, seien heute in einem Alter, in dem viele der
Gewerkschaft den Rücken kehren. Doch Verdi steuere dagegen an.

Werneke wird eine schlankeren Großgewerkschaft führen. Seit einigen
Jahren modernisiert sich Verdi, bündelt Fachbereiche, setzt auf
Arbeitsteilung zwischen Mitarbeitern für Beratung in Zentren und
jenen für Tarif- und Betriebsarbeit in den Unternehmen. Ein
Traineeprogramm für mehr Professionalisierung und Diversität wurde
aufgelegt. Bsirske: «Wir wollen mehr Frauen und Menschen mit
Migrationshintergrund als Gewerkschaftssekretäre gewinnen.»

«Mr. Verdi» steht persönlich auch für Kampf auf allen Ebenen. «Di
e
große Mehrheit der Menschen in diesem Land will nicht, dass Arbeit
arm macht und Arbeit entwürdigt», sagt er. Wenn er die Politik zu
Schritten gegen Altersarmut oder die Erosion des Tarifsystems
aufruft, tut Bsirske das mit Verve. Werneke hat bisher wenig
Gelegenheit gehabt, öffentlich entsprechende Inbrunst zu
demonstrieren. Er gilt als sachlich - auch wenn er entsprechende
Zuschreibungen übertrieben findet. Seit acht Jahren ist er im
Vorstand zuständig für die Finanzen, das erfordert kühlen Kopf.

Bsirske meint mit Blick auf seine Zukunft, ihm werde es kaum
langweilig. «Es gibt so viel Interessantes zu lesen», meint er. Davon
gab sich auch der Bundespräsident überzeugt, der in Leipzig von der
«beeindruckenden Bibliothek» des Gewerkschaftschefs berichtete. «Wie

ich gehört habe, haben im zweiwöchigen Urlaub zehn Krimis nicht
ausgereicht», sagte Steinmeier. Und nachdem er das jetzt öffentlich
gemacht habe, würden sicher sehr viele neue Krimis als Geschenke
dazukommen. «Uns allen ist klar: Du wirst Dich weiter einmischen»,
sagte der Bundespräsident zu Bsirske.

Bei RWE und der Deutschen Bank bleibt er im Aufsichtsrat. Seine
Sprachkenntnisse wolle er verbessern, sich körperlich fit halten. Und
die Politik? «Ich habe den ersten Schulstreik in Niedersachsen
mitorganisiert für eine bessere Ausstattung mit Lehrkräften und mit
14 Jahren zum ersten Mal demonstriert, gegen den Vietnamkrieg
damals», erzählt das Grünen-Mitglied. «Ich lege das nicht ab, sonde
rn
werde politisch aktiv bleiben.»