Bericht: Mangel an Lebensmitteln und Arzneien bei No-Deal-Brexit Von Silvia Kusidlo und Holger Mehlig, dpa

In Großbritannien wächst die Angst vor einem No-Deal-Brexit mit
schweren Schäden für die Wirtschaft und andere Bereiche. Die Folgen
zeigt ein Dokument auf. Doch Premier Johnson beharrt auf seiner
Position.

London (dpa) - Bei einem ungeregelten Brexit rechnet die britische
Regierung einem Bericht zufolge mit einem Mangel an Lebensmitteln,
Medikamenten und Benzin. Darüber hinaus werde von einem mehrmonatigen
Zusammenbruch in den Häfen, einer harten Grenze zur Republik Irland
und steigenden Sozialkosten ausgegangen, berichtete die «Sunday
Times» unter Berufung auf bislang geheimgehaltene
Regierungsdokumente.

Zollkontrollen und Megastaus von Lastwagen in Südengland hätten
demnach zur Folge, dass weniger frische Lebensmittel vom europäischen
Festland nach Großbritannien eingeführt werden könnten. Britische
Patienten müssten länger auf Arzneimittel wie Insulin und Impfstoffe
gegen Grippe warten. Ein ungeregelter Ausstieg würde auch zu
Verzögerungen für Passagiere an EU-Flughäfen, im Eurotunnel und in
der Hafenstadt Dover am Ärmelkanal führen. An der Grenze zwischen der
Republik Irland und dem britischen Nordirland wird mit starken
Protesten gerechnet, wie die «Sunday Times» weiter berichtete.

Es handele sich um eine «realistische Einschätzung» dessen, was die
Öffentlichkeit im Falle eines No Deal erleben werde, zitierte die
Zeitung eine nicht näher genannte Regierungsquelle. Diese Szenarien
seien sehr wahrscheinlich und «nicht der schlimmste Fall».

Das Dossier wurde nach Angaben der «Sunday Times» vom Cabinet Office
zusammengestellt. Das Büro unterstützt Premierminister Boris Johnson
und die Minister in ihrer Arbeit. Es wird immer wahrscheinlicher,
dass Großbritannien an Halloween (31. Oktober) ohne Abkommen aus der
Europäischen Union ausscheidet. Das Parlament ist im Brexit-Kurs nach
wie vor heillos zerstritten und eine Lösung nicht in Sicht.

Mehr als 100 Abgeordnete riefen am Wochenende in einem Brief Johnson
eindringlich dazu auf, das Parlament umgehend aus der Sommerpause zu
holen. Das Unterhaus tagt erst wieder im September.

Der Premierminister fordert Nachverhandlungen des Brexit-Abkommens,
das seine Vorgängerin Theresa May noch mit Brüssel ausgehandelt hat.
Notfalls will er sein Land ohne Deal aus der Staatengemeinschaft
führen. Änderungen lehnt die EU aber ab. May war dreimal mit dem
Abkommen im Parlament in London durchgefallen und gab ihr Amt auf.

Johnson wird in den kommenden Tagen ins Ausland reisen und trifft am
Mittwoch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Berlin. Die
Bundesregierung bedauere die Entscheidung der Briten, die EU zu
verlassen, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Sonntag in
Berlin. «Aber wir müssen auch die Realitäten zur Kenntnis nehmen.»
Am
Donnerstag ist nach Angaben der Downing Street ein Treffen Johnsons
mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron geplant. Es wird
davon ausgegangen, dass der Premier nicht von seiner Haltung abrückt.

Auch beim G7-Gipfel vom 24. bis 26. August im französischen Seebad
Biarritz werden die Staats- und Regierungschefs Gelegenheit haben,
über die Scheidung Großbritanniens von der EU zu reden.

Eine Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus will den No-Deal-Brexit
verhindern, doch es herrscht keine Einigkeit darüber, wie das
gelingen soll. Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte sich selbst als
Interims-Premier vorgeschlagen und wollte eine Revolte gegen Johnson
anzetteln. Sein Vorschlag stieß jedoch auf viel Kritik. Am Wochenende
warnte er, Großbritannien steuere auf eine «Katastrophe» zu.

Fast jeder zweite Brite würde sich einer Umfrage zufolge lieber für
einen ungeregelten Brexit entscheiden, als dass Corbyn
Übergangspremier wird. Nur ein Drittel der Befragten (35 Prozent)
sprach sich für Corbyn aus. 48 Prozent würden der YouGov-Umfrage
zufolge einen EU-Austritt ohne Abkommen bevorzugen. 17 Prozent der
insgesamt 1968 Befragten waren unschlüssig.

Corbyn hatte vorgeschlagen, als Übergangspremier das Steuer zu
übernehmen, um einen EU-Austritt ohne Abkommen zu verhindern. Der
70-Jährige rief die Oppositionsparteien und Tory-Rebellen dazu auf,
Johnson mit einem Misstrauensvotum aus dem Amt zu drängen. Als
Premier würde Corbyn den Brexit hinauszögern, eine Neuwahl ausrufen
und ein neues Referendum über die EU-Mitgliedschaft auf den Weg
bringen wollen.

Auch der Alterspräsident des Unterhauses, Ken Clarke, bot sich als
Übergangspremier für eine Notregierung an. Wenn es der einzige Weg
wäre, um einen No Deal zu verhindern, «würde ich es nicht ablehnen»
,
sagte der ehemalige konservative Finanzminister (1993-97) der BBC.
Der 79-Jährige reagierte damit auf einen Vorschlag der liberalen
Parteichefin Jo Swinson, die Corbyn für die Rolle abgelehnt hatte.
Der proeuropäische Clarke genießt überparteilich großen Respekt.

Um einen No-Deal-Brexit noch zu verhindern, wäre es auch denkbar,
dass die Abgeordneten der Regierung die Kontrolle über den
Parlamentskalender entreißen und eine Verlängerung der Brexit-Frist
per Gesetz erzwingen. Aber auch bei dieser Option wäre es nötig, dass
sich die zerstrittene Opposition mit Rebellen aus der
Regierungsfraktion auf ein gemeinsames Vorgehen einigt.