Knappe Mehrheit: Von der Leyen wird EU-Kommissionspräsidentin

Sie ist durch: Nach einem harten Einsatz und vielen Versprechen ist
der Weg für Ursula von der Leyen an die Spitze der Europäischen
Kommission frei. Doch es war äußerst knapp.

Straßburg (dpa) - Ursula von der Leyen wird die neue Präsidentin der
EU-Kommission. Die CDU-Politikerin wurde am Dienstagabend im
Europaparlament mit einem äußerst knappen Ergebnis in das Amt
gewählt: Sie erhielt 383 Stimmen - die nötige absolute Mehrheit lag
bei 374, wie Parlamentspräsident David Sassoli mitteilte. Die
60-Jährige kann damit am 1. November die Nachfolge des Luxemburgers
Jean-Claude Juncker antreten - als erste Frau in dieser Position.
Erstmals seit Walter Hallstein (1958-1967) erobert jemand aus
Deutschland das Amt.

Von der Leyen bedankte sich in einer ersten Reaktion für das
Vertrauen. «Ich fühle mich so geehrt», sagte die scheidende
Bundesverteidigungsministerin. Sie bot dem Parlament eine enge
Zusammenarbeit an. Vizekanzler Olaf Scholz und Außenminister Heiko
Maas (beide SPD) gratulierten von der Leyen direkt nach der
Verkündung des Ergebnisses - und das, obwohl die deutschen
Sozialdemokraten im EU-Parlament gegen die CDU-Frau stimmen wollten.

Als Kommissionspräsident kann von der Leyen in den nächsten fünf
Jahren politische Linien und Prioritäten mitbestimmen. Sie wird
Chefin von mehr als 30 000 Mitarbeitern in der Kommission. Diese ist
dafür zuständig, Gesetzesvorschläge zu machen und die Einhaltung von

EU-Recht zu überwachen. Sie bestimmt damit auch den Alltag der gut
500 Millionen Europäer mit.

In Berlin will Bundeskanzlerin Angela Merkel nun sehr schnell über
von der Leyens Nachfolge als Verteidigungsministerin entscheiden. «Es
wird eine sehr schnelle Neubesetzung geben», sagte Merkel am
Dienstag. In Berlin verdichteten sich Spekulationen, wonach
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (39) für das Amt gesetzt ist.
Von der Leyen hatte schon am Montag ihren Rücktritt als Ministerin
angekündigt, um sich voll der Aufgabe in Brüssel zu verschreiben.

Vor der Abstimmung im Straßburger Europaparlament hatte es sehr viel
Unmut gegeben, weil von der Leyen keine Spitzenkandidatin zur
Europawahl war. Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten die
Spitzenkandidaten Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei und
Frans Timmermans von den Sozialdemokraten übergangen und stattdessen
von der Leyen als Überraschungskandidatin präsentiert.

Die SPD-Europaabgeordneten, die Grünen und die Linken hatten deshalb
- und auch wegen inhaltlicher Differenzen - ein Nein angekündigt.
Doch signalisierten die EVP, die Liberalen und die Mehrheit der
Sozialdemokraten bereits vor der geheimen Abstimmung Unterstützung.
Die rechtsnationale EKR, die von der Leyen ursprünglich ebenfalls
Stimmen in Aussicht gestellt hatten, konnte sich letztlich nicht
einigen und gab die Abstimmung frei; auch von dort könnten einige
Stimmen gekommen sein.

In ihrer Rede am Vormittag hatte von der Leyen Einheit und
Zusammenhalt beschworen, damit Europa sich in der Welt behaupten
könne. Und sie wiederholte eine ganze Reihe von Zusagen, die sie
bereits in den vergangenen Tagen an die Abgeordneten gemacht hatte,
und unterfütterte sie mit Details.

Sie bekräftigte ihr Versprechen eines klimaneutralen Europas bis 2050
und einer Senkung der Treibhausgasemission bis um 55 Prozent bis
2030. «Unsere drängendste Aufgabe ist es, unseren Planeten gesund zu
halten», sagte von der Leyen. Sie betonte, sie werde sich für
vollständige Gleichberechtigung von Männern und Frauen einsetzen.

Große Internetkonzerne sollen nach ihrem Willen in Europa stärker
besteuert werden. «Es ist nicht akzeptabel, dass sie Profite machen
und keine Steuern zahlen», sagte sie. Die Einführung einer
Digitalsteuer in Europa war unter der Kommission von Jean-Claude
Juncker am Widerstand einiger Staaten gescheitert. Sie sagte zudem
vollen Einsatz der Kommission für die Rechtsstaatlichkeit zu - mit
allen Instrumenten und mit einem neuen Rechtsstaatsmechanismus.

Sie schloss auch eine weitere Verschiebung des Brexits nicht aus -
was Protestrufe der Brexit-Partei im Parlament auslöste. Eine
Verlängerung der Austrittsfrist für Großbritannien wäre möglich,
wenn
es gute Gründe gäbe, sagte sie. Die Frist läuft derzeit bis 31.
Oktober.

Ihre politischen Leitlinien legte von der Leyen in einem mehr als
20-seitigen Dokument dar, das am Dienstag zur Parlamentsabstimmung
veröffentlicht wurde. Es trägt die Überschrift «Eine Union, die meh
r
erreichen will - Meine Agenda für Europa». Arbeitsschwerpunkte darin
sind unter anderem der Klimaschutz, die Wirtschafts- und
Migrationspolitik sowie die Rolle der EU in der Welt. «Ich sehe die
kommenden fünf Jahre als Chance für Europa - um zu Hause über sich
hinauszuwachsen und damit eine Führungsrolle in der Welt zu
übernehmen», schreibt von der Leyen darin.

In der Debatte hatte es einigen Zuspruch für von der Leyen, aber auch
drastische Kritik gegeben. Bis zuletzt war nicht ganz sicher, ob die
Mehrheit zustande kommen würde. Die 16 SPD-Europaabgeordneten wollten
auch nach der Rede bei ihrem Nein bleien. Ein Schreiben der
CDU-Politikerin an die Fraktion habe zwar viele Forderungen der
Sozialdemokraten aufgenommen, sagte der deutsche Gruppenchef der
Sozialdemokraten, Jens Geier. Die Ankündigungen würden aber mit
Skepsis gesehen. Letztlich signalisierten vor der Abstimmung aber
etwa 100 der 153 Abgeordneten Zustimmung, also rund zwei Drittel.