Wenn weniger mehr sein soll: Heftige Debatte um Klinikschließungen Von Yuriko Wahl-Immel und Claus Haffert, dpa

Fast 60 Prozent der Krankenhäuser sollten dichtgemacht werden, rät
eine Studie. Falsches Rezept, hallt es zurück. Die Wege zur Klinik
auf dem Land könnten noch länger werden, ist die Befürchtung. Auch
der Bundespräsident hat das Thema schon angesprochen.

Gütersloh (dpa) - Die Diagnose klingt hart, der Einschnitt wäre tief.
In einer Studie der Bertelsmann Stiftung raten Experten, von derzeit
1400 Krankenhäusern nur 600 größere und bessere zu erhalten. Nur
Kliniken mit großen Fachabteilungen und vielen Patienten hätten
ausreichend Erfahrung für eine sichere Behandlung, lautet ein
Hauptargument. Viele Komplikationen und Todesfälle seien vermeidbar,
wenn man Mediziner und Pflegepersonal auf weniger Häuser mit einer
Top-Ausstattung konzentriere. Aber kommt es dann zu der bitteren
Nebenwirkung, dass Patienten es im ländlichen Raum noch weiter haben
bis zur nächsten Klinik als bisher?

Diese Sorge treibt viele um. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
hat das angesprochen, als er bei seiner Tour «Land in Sicht - Zukunft
ländlicher Räume» in der Oberlausitz Station machte. Dort wüssten d
ie
Menschen, was es heiße, wenn der Weg «zum nächsten Krankenhaus immer

weiter wird», sagte das Staatsoberhaupt. Und im Westen laufen aktuell
Bürger etwa in Sankt Augustin bei Bonn Sturm gegen die geplante
Schließung einer Kinderklinik. Der Frust fernab der größeren Städte

und Ballungsräume ist jetzt schon mancherorts enorm.

«Es braucht eine gut erreichbare Grundversorgung vor Ort ebenso wie
eine Hochleistungsmedizin in der Region», fordert Eugen Brysch,
Vorstand der Deutschen Stiftung für Patientenschutz. «Über die Hälf
te
der Krankenhäuser zu schließen, ist kein Konzept, sondern Kahlschlag.
Das mag wissenschaftlich begründet sein, wäre für die Menschen aber
verheerend», kritisiert er. Es gehe auch gar nicht immer um
komplizierte Operationen. Die Versorgung müsse auch für Patienten
sichergestellt werden, die in der Klinik keine Maximaltherapie
benötigten. «Das sind vor allem alte, pflegebedürftige und chronisch

kranke Menschen.» Mehr als 60 Prozent aller Klinikpatienten.

In den Städten wäre die Nahversorgung zwar auch bei einer Schließung

von Kliniken gesichert, glaubt Jürgen Wasem, Experte für
Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen. Aber: «Im
ländlichen Raum sieht das anders aus. Dort stellt sich das Problem
der Zugänglichkeit deutlich krasser.» Die Bertelsmann-Untersuchung
räumt dazu auch ein: In ländlichen Kreisen mit unter 75 Einwohnern
pro Quadratkilometer - derzeit 28 Kreise in acht Bundesländern -
werde es dann wohl kaum möglich sein, binnen 30 Minuten ein größere
s
Krankenhaus zu erreichen.

In Sankt Augustin haben kürzlich 500 Bürger für den Erhalt der
Kinderklinik demonstriert. Weil das dortige Kinderherzzentrum an die
Uniklinik Bonn abwandere, solle die gesamte Kinder- und Jugendklinik
mit Experten aus allen Disziplinen dichtgemacht werden, schildert
CDU-Ratsmitglied Sascha Lienesch. Das Krankenhaus im Rhein-Sieg-Kreis
habe einen großen Einzugsbereich. Die Fahrten würden für sehr viele
Patienten länger. Die Kapazitäten im Umfeld reichten auch nicht aus,
um den Bedarf nach der Klinikschließung aufzufangen, meint er.

«Wir brauchen in Deutschland einen guten Mix aus wohnortnaher
Versorgung und Spezialisierung», sagt Bundesgesundheitsminister Jens
Spahn (CDU). Kürzlich hatte er betont: «Ein Krankenhaus vor Ort ist
für viele Bürger ein Stück Heimat.» NRW-Gesundheitsminister
Karl-Josef Laumann (CDU) meint, angesichts begrenzter Finanzen und
des Fachkräftemangels seien «ressourcenschonende Strukturen» nötig.

Ohne «Zentralisierungen und Spezialisierungen» werde es nicht gehen.
Man wolle aber die Strukturen im ländlichen Raum stärken, versichert
Laumann.

Und was sagen die Mediziner? Die Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse und der gesetzliche Auftrag der Daseinsvorsorge
stehe über allem, unterstreicht die Bundesärztekammer. «Gerade im
ländlichen Raum müssen wir die flächendeckende Versorgung der
Patienten sicherstellen.» Die Deutsche Krankenhausgesellschaft
findet: Wer 1000 Akutkrankenhäuser «platt machen» wolle, propagiere
genau das Gegenteil dessen, was die von der Bundesregierung
eingesetzte Kommission «gleichwertige Lebensverhältnisse» erst vor
Tagen für die ländlichen Räume gefordert habe.

Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen begrüßt dagegen die
Empfehlungen aus Gütersloh - beim Blick auf die Ballungsgebiete. Dort
gebe es zu viele Kliniken, die sich untereinander Konkurrenz machten
- um Ärzte, Pflegepersonal und auch Patienten, sagt Sprecherin Ann
Marini. Die ländlichen Regionen müsse man aber anders betrachten.
Hier förderten die Kassen bereits einige Kliniken mit prekärer
Finanzlage. Und 2020 komme ein neuer Zuschlag für 120 unentbehrliche
Häuser im ländlichen Raum hinzu.

Fakt ist, dass die Finanzen mancher Kliniken nicht gerade gesund
sind. Laut Deutscher Krankenhausgesellschaft hat jede dritte Klinik
2017 rote Zahlen geschrieben. Der Marburger Bund meint allerdings:
«Krankenhäuser sind keine Profitcenter, sondern Teil der staatlichen
Daseinsvorsorge.» Ökonomen könnten leicht von Zentralisierung und
Kapazitätsabbau «fabulieren». Schmerzhaft treffen werde das aber
besonders ältere und wenig mobile Menschen.