Sexueller Missbrauch im Sport: Forscher sprechen von 200 000 Fällen Von Martin Beils, dpa

Die «Sportschau» bezeichnet sexuellen Missbrauch im Sport als großes

Tabu. Forscher legen die Dimension des Problems dar. Eine Kommission
kritisiert, dass eine Aufarbeitung «in den Strukturen des Freizeit-
und Leistungssports bisher noch nicht ausreichend vorgesehen» sei.

Köln (dpa) - Sexueller Missbrauch im Sport ist einer Studie zufolge
ein weitgehend verdrängtes Problem großen Ausmaßes. Auf hochgerechnet

rund 200 000 Betroffene bezifferte die ARD-«Sportschau» die Zahl der
Opfer in Deutschland. Sie zitierte in dem am Samstag ausgestrahlten
45-minütigen Beitrag «Das große Tabu» eine noch unveröffentlichte

Studie der Uniklinik Ulm, über die die Tageszeitung «Die Welt» zuerst

berichtet hatte. «Wir haben eine Bewusstseinsentwicklung nötig in
diesem Bereich», sagte der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Jörg
Fegert.

Für die Studie waren rund 2500 Menschen zu ihren Erfahrungen mit
sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend befragt worden. Bereits
vor drei Jahren hatte die Uniklinik 1800 Leistungssportler befragt.
Mehr als ein Drittel berichtete, «sexuell übergriffige Dinge» erlebt

zu haben. Fegert sagte: «Da waren wir schon entsetzt. Wenn man es
sehr eng nimmt, haben drei Prozent sexuelle Übergriffe mit
Penetration erlebt, schwerste Taten. Aber es kommt natürlich ein
großes Feld von ungewollten Berührungen dazu.»

Eine Untersuchungskommission der Bundesregierung hatte im Mai auf die
Problematik im Sport aufmerksam gemacht. Die Kommissionsvorsitzende
Sabine Andresen kritisierte, dass Anhörungen sowie Berichte von
Betroffenen und in Medien darauf hinwiesen, «dass es hier einer
unabhängigen Aufarbeitung bedarf, die in den Strukturen des Freizeit-
und Leistungssports bisher noch nicht ausreichend vorgesehen ist».

Der Deutsche Olympische Sportbund versicherte, dass «die
Weiterentwicklung der Prävention von sexualisierter Gewalt im Kinder-
und Jugendsport bei uns einen hohen Stellenwert hat». Alfons Hölzl,
der Präsident des Deutschen Turner-Bundes, wies in einem Beitrag für
das «Turn-Magazin» darauf hin, dass das Bundesinnenministerium
Präventionskonzepte und Eigenerklärungen als Fördervoraussetzungen
von allen Sportverbänden verlange.

In der ARD-Sendung wurden unter anderem Fälle aus einem Turnverein in
Weimar und aus dem Reitsport genannt. Die Deutsche Reiterliche
Vereinigung (FN) wehrte sich gegen den Vorwurf, einen Fall sexuellen
Missbrauchs nicht konsequent aufgearbeitet zu haben. Die «Sportschau»
zitierte anonym den Vater eines Opfers mit der Aussage, dass die FN
nicht auf seine Familie zugekommen sei: «Ich habe mich sofort
gefragt, auf welcher Seite der Verband steht. Auf der Seite des
Opfers oder auf der Seite des Täters?»

In einer Pressemitteilung schrieb die FN dazu: «Wir bedauern es, dass
mehrere Kontaktaufnahmen von Seiten der FN und des zuständigen
Landesverbandes mit der Opferfamilie im Januar 2013 sowie im August
2014 als nicht ausreichend wahrgenommen wurden.» Der TV-Beitrag
kritisiert zudem, dass der beschuldigte Reiter wieder für Deutschland
antreten durfte. «Heute würden wir mit einem wie im Beitrag
geschilderten Fall anders umgehen», teilte die FN mit.

International wurde das Problem durch Fälle aus den USA deutlich. Der
ehemalige Turn-Verbandsarzt Larry Nassar war seit Sommer 2017 in drei
Urteilen für den Missbrauch teils minderjähriger Opfer zu bis zu 175
Jahren Haft verurteilt worden. Im US-Leistungssport sind einer
Aufstellung der Trainer-Webseite greatcoach.com zufolge inzwischen
fast 1000 Coaches aus olympischen Sportarten wegen Vorwürfen
sexueller Übergriffe, Dopingvergehen oder anderer Straftaten verbannt
worden.