Ablenkung total: Denkzentrale im digitalen Dauerstress Von Petra Kaminsky , Jens Büttner und Sebastian Gollnow , dpa

Lesen, Freunde in Netzwerken kontaktieren, mit der App navigieren -
vieles läuft digital. Unser Gehirn reagiert auf die neuen Reize. Doch
wie? Was verändert die Dauerpräsenz von Smartphones im Kopf des
Menschen? Eine Spurensuche.

Berlin (dpa) - Henriette zögert, als sie in die winzige Kabine
klettern soll. Wenig später sitzt die Zweijährige auf dem Schoß ihrer

Mutter. Die Augen leuchten. Vor ihr steht ein Bildschirm, ein Film
läuft. Plötzlich horcht sie auf. Etwas summt, ähnlich wie ein Handy.

Was Henriette nicht weiß: Eine Spezialkamera für Eye-Tracking
zeichnet ihre Augenbewegungen und die Pupillengröße auf. Henriette
sitzt im Zentrum eines Versuchs im Kinderlabor in Magdeburg. Es geht
um Aufmerksamkeit, Ablenkung und den Aufbau des Gehirns. Es geht um
aktuelle Forschung - auch zum Einfluss der digitalen Dauerbespielung.

Außerhalb der Kabine wandern die Blicke von Professorin Nicole Wetzel
zwischen mehreren Monitoren hin und her. Zu ihr werden die Daten von
Testpersonen drinnen übertragen. Weiße Bluse, dunkles Jackett, Jeans,
so sitzt die 45-Jährige in dem Labor am Leibniz-Institut für
Neurobiologie. Sie möchte ergründen, wie sich Aufmerksamkeit, Lernen
und das Gedächtnis von Kindern und Jugendlichen entwickeln.

Ein heißes Thema in Zeiten, in denen viele Kids ihre Finger kaum vom
Handy lassen können. In Zeiten, in denen Krankenkassen vor
Internetsucht und Social-Media-Abhängigkeit warnen. Zwar forschen die
Magdeburger ursprünglich allgemein zur Hirnaktivität beim Lernen und
Erinnern und nicht zur Medienwirkung. Doch Wetzels
Aufmerksamkeitsversuche sind ein Baustein in dem Mosaik von Studien
weltweit, die die Arbeit der Zellen im Gehirn ergründen.

Welche Spuren hinterlässt die Dauerpräsenz von Smartphones in unseren
Köpfen? Gibt es deformierte Twitter- oder Facebook-Gehirne, wie
manche Pessimisten warnen?

«Grundsätzlich ist es so, dass wir noch relativ wenig darüber wissen,

wie digitale Medien das Gehirn und seine Aktivität verändern», sagt
Nicole Wetzel. Die Expertin lächelt ansteckend freundlich. «Dass sie
es verändern, ist keine Frage. Denn alles, was wir erleben, was wir
lernen, egal ob wir ein Buch lesen oder eine Sandburg bauen,
verändert unser Gehirn. Die Frage ist nicht ob, sondern wie genau.»

HANDY-KLINGELN LENKT DAS GEHIRN AB

Bei Versuchen kontrolliert ihr Team die Augen - wie bei Henriette.
Die Pupillen reagieren nicht nur auf Licht, sondern auch auf
kognitive Prozesse. «Wenn wir etwas Überraschendes hören, weiten sich

unsere Pupillen», erläutert die Forscherin. Eigentlich sollen die
Testpersonen eine Aufgabe erfüllen. Wenn zwischendurch ein Handy
klingelt, können die Forscher mit ihren Eye-Trackern erkennen, dass
jemand von seinem eigentlichen Ziel abgelenkt wird.

Eine weitere Messmethode setzt bei den elektrischen Strömen im Gehirn
an. Dafür bekommen die Probanden Hauben mit Elektroden für ein EEG
auf den Kopf gezogen. Die Mess-Kappen zeichnen auf, welche Bezirke im
Kopf in Schwung kommen, wenn ein Reiz eintrifft. Bestimmte Muster
erlauben den Forschern Rückschlüsse, wie abgelenkt jemand ist.

«Wenn ein Störgeräusch eingespielt wird, reagieren die Kinder meist
langsamer oder machen mehr Fehler», sagt Wetzel. «Und je jünger die
Kinder sind, desto mehr sind sie beeinträchtigt in ihrer Leistung.»

Nun ist unser Denkapparat keine Festplatte, auf der man nur speichert
und abruft, sondern ein empfindliches, hochgradig wandelbares Organ.
Das Hirn reagiert schnell auf Einflüsse von außen, es ändert seine
Vernetzungen. Experten sprechen von Plastizität.

«Man kann sich das vereinfacht so wie ein Wegenetz vorstellen: Am
Anfang, bei einem Kleinkind, sind viele Wege angelegt», erläutert
Wetzel. «Und die Wege, die die Kinder häufig nutzen, die werden zu
großen, breiten Straßen ausgebaut, wo der Verkehr schnell fließt.»

Wenig genutzte Wege verkümmern - ihr Ausbau wird später im Leben
mühsamer. «Wenn ich jeden Tag viele Male mein Handy hervorziehe, wird
das irgendwann auch so eine breite Straße - um im Bild zu bleiben.»

Wenn Menschen in jungen Jahren schnell abgelenkt sind von
Handy-Nachrichten und Pieptönen, wenn sie Störeinflüsse schwer
kontrollieren können, wird so das tiefe Verstehen behindert? «Da ist
noch vieles offen und zu erforschen», sagt Wetzel. Forscher würden
sehr unterschiedliche Ergebnisse vermelden: Aufmerksamkeit kann mit
bestimmten Computerspielen trainiert werden. Einerseits.
«Andererseits wird über Zusammenhänge zwischen übermäßigem
Medienkonsum und beeinträchtigter Aufmerksamkeit berichtet.»

SMARTPHONE-BOOM NOCH NICHT VOLL ERFORSCHT

Noch ist die Digitalisierung in vollem Gange. Der Smartphone-Boom
etwa läuft erst seit etwas über zehn Jahren - zu kurz für große
Langzeit-Studien. Trotzdem: Menschen nutzen vermehrt Navigationsapps
statt Straßenkarten, Tablets statt Bücher, Einpark-Hilfen im Auto und
sprechende Assistenten zu Hause. Oft deuten sich Zusammenhänge an,
aber ob ein Geschehen wirklich Ursache eines Wandels im Kopf ist,
bleibt häufig erstmal unklar.

In Großbritannien veröffentlichte die Gesundheitsorganisation RSPH
einen Report zu sozialen Netzwerken und der Gesundheit junger
Menschen. Ein wichtiger Punkt: Das Handy am Bett, das Checken, um
nachts nichts zu verpassen, kann den Schlaf massiv stören. Einer von
fünf Jugendlichen kontrolliere nachts seine Netzwerke. Für den Aufbau
des jungen Gehirns jedoch ist viel Schlaf essenziell, wie die
Studienmacher betonen.

In den USA machte der Psychologe Adrian F. Ward bei zwei Versuchen,
die er 2017 mit Kollegen präsentierte, spannende Entdeckungen: Allein
die Nähe des eigenen Smartphones reicht danach aus, dass Menschen bei
Testfragen schlechter abschneiden. Liegt das Gerät in einem anderen
Raum, denken Probanden mehr und antworten korrekter. Ward
schlussfolgert, dass ein nahes Handy uns so in Beschlag nimmt, dass
Ressourcen im Gehirn besetzt werden. Das Arbeitsgedächtnis in den
Stirnlappen der Großhirnrinde, im Präfrontalen Cortex, etwa. Es kann
dann weniger in anderen Feldern leisten. Wir brauchen es unter
anderem, um Sätze zu verstehen. Beim logischen Denken ist es
ebenfalls aktiv.

SPANNENDE FORSCHUNG IN TÜBINGEN 

Dass digitale Techniken in diesem wichtigen Hirnteil Spuren
hinterlassen, berichten auch die Experten vom Leibniz-Institut für
Wissensmedien in Tübingen. Untergebracht in einem imposanten
Gelbklinkerbau, mit Blick auf die mittelalterliche Innenstadt,
erforschen rund 90 IWM-Wissenschaftler, wie Computer, Tablets und
Internet Lernen und Lehren verbessern können. Sie nutzen - ähnlich
wie die Magdeburger - auch Eye-Tracking und EEG-Hauben.

«Digitale Medien sind per se weder gut noch böse», stellt
Psychologie-Professorin Ulrike Cress, 53 und Direktorin des
Instituts, klar. «Sie haben bestimmte Eigenschaften, die das Denken
beeinflussen. Wir analysieren, wie wir Medien besser nutzen, um
Lernprozesse zu erleichtern. Und wie wir negative Effekte vermeiden,
etwa - bezogen auf das Internet - die Überlastung des Gehirns durch
zu viele Informationen.»

LESEN IST NICHT GLEICH LESEN 

Arbeitsgruppenleiter Peter Gerjets hat zum Stichwort Überlastung ein
Beispiel parat: «Lesen und Lernen im Internet ist anders als im
Buch», sagt der 54-Jährige. «Das liegt daran, dass digitale Texte
andere Funktionalitäten enthalten als analoge, gedruckte Texte.»

Grundsätzlich gilt, dass Lesen, anders als Sehen und Sprechen, nicht
biologisch angeboren ist, sondern erlernt wird. Das heißt, dass das
Gehirn die breiten Lese-Straßen, die Netzwerk-Verbindungen der
Zellen, erst anlegt. Wobei ein Mensch beim Lesen Hochleistungen
vollbringt: Das Gehirn muss blitzschnell Zusammenhänge bilden,
unsinnige Wort-Bedeutungen unterdrücken und vieles mehr.

In Versuchen ließen die Tübinger ihre Testpersonen Wikipedia-ähnliche

Texte, die Links zum Weiterklicken enthielten, zum Lernen nutzen. Und
im Vergleich dazu Texte ohne Verlinkungen. Das Ergebnis: Links
bedeuten Ablenkung. «Schaut man auf das gleiche Wort, wenn es als
Link markiert ist, wird die Pupille messbar größer, ein Indikator für

kognitive Belastung.» Das Gehirn springt an, und zwar das
Arbeitsgedächtnis. Dabei werden offenbar Ressourcen benötigt, die
auch zum Lernen wichtig sind. Das Lern-Ergebnis kann sinken.

LINKS IM TEXT KÖNNEN ABLENKEN

«Das Spannende ist: Links lenken sogar dann ab, wenn sie nicht
aufgemacht werden - nur weil sie vorhanden sind», berichtet Professor
Gerjets weiter. «Sogar wenn wir Testpersonen sagen, sie sollen die
Links nicht anklicken, sondern sich nur auf ihr Lernziel
konzentrieren, können wir zeigen, dass die Lernleistung sinkt.» Die
Erklärung: Der Link kann einen Impuls im Kopf auslösen, den Wunsch
auf die neue Netzseite zu springen. Den muss das Gehirn unterdrücken.
«Und auch ein Unterdrücken belastet das Arbeitsgedächtnis.»

Ablenkung, Unterdrücken von Impulsen, Lernen - alles fordert seinen
Teil der begrenzten Ressourcen. Wie der Zusammenhang genau ist und
wie sich das langfristig im Kopf niederschlägt? Peter Gerjets'
Antwort: Da muss man weiterforschen.

Ähnliche Reaktionen der Überforderung vermuten die Fachleute, wenn
man sich zu komplexen, meinungslastigen Themen im Internet schlau
machen will. «Denken Sie an das Thema Impfschutz, was da alles durchs
Netz schwirrt, auch Fake News», sagt der Psychologe Gerjets. Man
finde zwar viele Infos. Aber, und das wäre ein Mammutjob, man müsste
die Quellen auf Glaubwürdigkeit prüfen und vergleichen - ebenfalls
eine Aufgabe fürs Arbeitsgedächtnis. «Dann schaltet das Gehirn
irgendwann in einen Stopp-Modus.» Bei Internetrecherchen werden oft
nur die ersten paar Links aufgerufen - dann wird abgebrochen.

Trotz solcher Alarmsignale hat der Familienvater keine Bedenken, das
eigene Kind per App beim Spracherwerb zu fördern. Und beide, er und
IWM-Direktorin Cress, sind sich einig: «Überforderung und
Ablenkungspotenzial sind keine Argumente gegen ein Medium an sich,
sondern gegen die ungesteuerte Nutzung.»

Drastischer hört sich die Analyse von Maryanne Wolf an. Die
Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin aus Los Angeles hat sich
voll aufs Thema Lesen spezialisiert. Genauer, auf Unterschiede
zwischen Papier und Bildschirm. Sie greift Erfahrungen auf, die viele
Menschen kennen: Wer regelmäßig über Stunden am Bildschirm liest, dem

fällt es häufig schwerer als früher, lange Strecken auf Papier
konzentriert zu meistern. Intensives Lesen wird plötzlich zum Stress.

Buchautorin Wolf («Schnelles Lesen, langsames Lesen») analysiert,
dass man digital in der Regel über weite Teile hinweg huscht. Man
klopft den Text auf Schlüsselwörter ab, überfliegt den Rest. Dieses
oberflächliche Scannen sei auf Geschwindigkeit angelegt. Das tiefe
Eintauchen ins Geschriebene dagegen werde eher vom Papier gefördert.

BLINDES VERTRAUEN IN TECHNIK IST GEFÄHRLICH

Passend dazu können Forscher zeigen, dass lange Informationstexte aus
Büchern und von Papier im Gehirn besser erinnert werden, als wenn sie
aus dem Netz gefischt wurden. Wolf warnt, dass sich das Gehirn durch
die neuen digitalen Lesegewohnheiten insgesamt daran gewöhnen könnte,
flach und ungeduldig zu denken. Sie sieht die Gefahr, dass Menschen
so einen Teil ihrer Fähigkeit zur Analyse komplexer Fragen verlieren.
Ein Risiko auch fürs Mitdenken in der Politik, für Wahlen und
Demokratie. Aber bewiesen, räumt Wolf ein, ist das noch nicht.

In eine ähnlich mahnende Richtung zielt die «Stavanger-Erklärung» v
on
Anfang 2019. Maryanne Wolf hat sie unterzeichnet, genau wie Yvonne
Kammerer vom Tübinger IWM. Darin fordern mehr als 130 Experten, das
analoge Lesen weiterhin zu fördern. Parallel sollten Schüler und
Studenten lernen, auch am Bildschirm verständnisorientiert zu lesen.
Und sie appellieren: Forscht weiter zu diesen Themen!

«Es gibt Hinweise, dass bei Zeitdruck das digitale Lesen von
Sachtexten im Vergleich zum analogen nachteilig ist - ohne Zeitdruck
nicht so», sagt die 37-jährige Kammerer.

«Ich glaube, wir sind an einem kritischen Punkt», mahnt US-Autorin
Wolf. Blindes Vertrauen in Technik sei ein Fehler. «Wir sollten beim
Umschwenken zum digitalen Lesen nicht so schnell vorwärts gehen wie
bisher. Wir sollten uns Zeit nehmen, die Vorteile digitaler Medien zu
erkunden, und gucken, wie wir die Nachteile umgehen.»

Der Braunschweiger Professor Martin Korte spricht ebenfalls von einem
«Übergangszustand». Als Pessimist mag der 54-jährige Neurobiologe

nicht gelten. Handys und Tablets machten junge Menschen nicht per se
dümmer als ihre Eltern - seien es die zweijährige Henriette oder
heutige Teenager. Das Gehirn besitze eine alte Grundstruktur. «Wir
haben kein Twitter-Gehirn, und wir haben auch kein Facebook-Gehirn.
Wir haben die Gehirne von einer Horde von Steinzeitmenschen, die
gewohnt sind, um eine Höhle herum zu leben», sagt er. «Das wird sich

sicher nicht so schnell ändern. Wir werden sicher bestimmte neue
Techniken und Kompetenzen erlernen und dafür andere verlieren.»