Von der Leyen nach Brüssel - Wackelt nach dem Coup die Koalition? Von Theresa Münch, Christoph Trost und Jörg Blank, dpa

Die Überraschungs-Personalie «vdL» bringt in der Bundesregierung
einiges durcheinander. Vor allem die SPD ist mal wieder auf dem Baum.
Doch hat das tatsächlich Nachwirkungen?

Berlin (dpa) - Ist es nur Theaterdonner? Oder steht die große
Koalition eineinviertel Jahre nach ihrem Wackelstart und kurz vor der
Sommerpause schon wieder auf der Kippe? Teile von SPD und Union
beharken sich am Mittwoch nach dem Coup um den geplanten Wechsel von
Ursula von der Leyen an die Spitze der EU-Kommission, als ob sie
ärgste politische Feinde wären - und nicht gemeinsam dafür sorgen
wollten, das Land nach vorne zu bringen.

Zugleich tagt im Kanzleramt das Kabinett, als ob rein gar nichts
passiert wäre. Eine nach den Marathonverhandlungen erstaunlich
ausgeruht wirkende Kanzlerin begrüßt ihre Regierungsriege. Angela
Merkel lächelt in die Runde, eine ziemlich strahlende
Verteidigungsministerin wird beglückwünscht, auch mal geherzt. Wie
von der Leyen mit SPD-Familienministerin Franziska Giffey und
Gesundheits-Kollege Jens Spahn (CDU) zusammensteht, wirkt eher wie
traute Runde als eine Regierung kurz vor dem Auseinanderbrechen.

Dabei rauscht fast zur gleichen Zeit erneut ein Sturm durch das
politische Berlin. Seitens der SPD sind es allerdings nicht die
Amtsträger, die das verbale Gegeneinander auf Touren bringen.
SPD-Leute aus Brüssel und den Ländern sehen die Demokratie
beschädigt, weil nach dem Brüsseler Kompromiss nicht die
Spitzenkandidaten Manfred Weber und Frans Timmermans zum Zuge kommen.
Am lautesten poltert Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel: Er sieht sogar einen
Grund für die in Umfragen weiterhin darbenden Sozialdemokraten, die
Regierung zu verlassen.

In der CDU sind sie einigermaßen konsterniert über die lautstarke
Empörung aus Teilen der SPD. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer
kontert, immerhin sei die Union samt Weber bereit gewesen, zugunsten
des Sozialdemokraten Timmermans und der Spitzenkandidaten-Idee
zurückzustecken. Dabei mache die SPD nun «deutlich, dass es ihr am
Ende um das eigene parteipolitische Interesse geht. Nicht um Europa,
und auch nicht um die Interessen Deutschlands».

Doch Gabriel bleibt mit seinem radikalen Ruf nach einem SPD-Ausstieg
aus der Koalition erstmal allein. Zwar hatte die Brodelei in der SPD
schon am Dienstagabend begonnen: Die kommissarischen Parteichefs Malu
Dreyer, Thorsten Schäfer-Gümbel und Manuela Schwesig machten schnell
klar: Mit Hinterzimmer-Kungelei statt dem Spitzenkandidaten-Prinzip
werde das nichts mit einer demokratischeren, glaubwürdigeren EU.

Doch so schnell die Emotionen bei den Sozialdemokraten hochkochen, so
schnell kühlen sie auch wieder runter. Ärgerlich, ja. Aber für die
Koalition sei die Situation nicht existenzbedrohlich, heißt es rasch
im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale. Für eine Kernschmelze in
der Regierung müssen schon andere Dinge passieren - zumal sich Merkel
bei der Nominierung von der Leyens ja enthalten hat. Damit dürfte sie
den Koalitionsfrieden gewahrt haben, wird signalisiert.

Die SPD-Spitze hat ja zur Zeit auch andere Sorgen. Erst mal muss ein
neuer Parteichef her - oder eine Doppelspitze. Eine nur
kommissarische Parteiführung dürfte kaum derart schwerwiegende
Entscheidungen wie einen Bruch der großen Koalition verantworten
wollen. Dreyer, Schwesig und Schäfer-Gümbel haben selbst keine
Ambitionen auf die Parteispitze, stehen vor allem deshalb gerade
obenan, weil sie absolutes Chaos im Umbruch verhindern wollen.

In der Union ist der Tag danach auch ein Tag der Spekulationen. Wer
rückt für von der Leyen am Kabinettstisch nach? Es laufe wohl auf den
jungen Gesundheitsminister Jens Spahn zu, meinen die einen. Schon
seit Wochen wird sein Name genannt, wenn über einen Umbau der
schwarzen Seite des Regierungsteams geraunt wird. Seine Aufgaben aus
dem Koalitionsvertrag habe er weitgehend abgearbeitet. Sollte er auf
dem «Feuerstuhl» Verteidigungsminister reüssieren, könne ihn das f
ür
noch höhere Aufgaben auszeichnen, hoffen seine politischen Freunde.

Glaubt man Unionsstimmen hinter vorgehaltener Hand, können sich aber
auch CDU-Verteidigungsexperten wie Johann Wadephul und Henning Otte
Hoffnung auf einen Wechsel ins Kabinett machen. Der ehemalige
CDU-Generalsekretär und Verteidigungsstaatssekretär Peter Tauber wird
auch genannt, genau wie der parlamentarische Geschäftsführer der
Unionsfraktion, Michael Grosse-Brömer. Er könnte zum Zug kommen,
falls die Kanzlerin aus Proporzgründen nach dem Weggang der
Hannoveranerin von der Leyen wieder einen Niedersachsen im Kabinett
haben möchte.

Doch noch ist offen, ob Deutschland tatsächlich erstmals seit Walter
Hallstein in den 1950er und 1960er Jahren wieder den mächtigen Posten
des Kommissionspräsidenten besetzen kann. Erst Mitte Juli wird wohl
die Abstimmung über die Personalie «vdL» im Europaparlament sein. Bis

dahin, heißt es in der Union, solle die Entscheidung über die
Nachfolge im Kabinett auf alle Fälle aufgeschoben werden - um
niemanden vorzeitig zu verbrennen, wird zur Begründung gesagt.

Für die CSU ist das Ergebnis des Brüsseler Machtkampfs vor allem
schwierig, weil der eigene Spitzenkandidat Weber demontiert wurde.
Der Zorn vor allem an der Parteibasis ist groß. «Weber wäre der
legitime Kommissionspräsident gewesen», klagt CSU-Chef Markus Söder:

«Der klassische Sieg des Hinterzimmers über die Demokratie.» Dennoch

muss Söder die Entscheidung mittragen, wohl oder übel. «Aus
Vernunftgründen», sagt er.

Der Zorn richtet sich in der CSU auch gegen die Kanzlerin. «Merkel
hat uns verraten», twittert ein Landtagsabgeordneter. In der
Parteispitze glaubt man allerdings nicht, dass das Verhältnis zur
Schwesterpartei CDU nachhaltig leiden wird. «Mein Eindruck ist, dass
die Bundeskanzlerin sich da schon Mühe gegeben hat», sagt Söder. Dass

die SPD so gegen die Personalie von der Leyen austeile, sei dagegen
«eine echte Belastung für die Koalition». Kaum einer wagt eine
Prognose, ob das tatsächlich noch lange gut geht mit der SPD in
Berlin.

Nur eines stellt Söder klar, weil von der Leyens Berliner Posten ja
nun nachbesetzt werden muss: dass die CSU ihre Ministerien - Innen,
Verkehr und Entwicklung - nicht hergibt.