Schweinegrippe-Pandemie vor zehn Jahren: Furcht, Panik, Vorwürfe Von Christiane Oelrich, dpa

Erst gab es ungewöhnlich viele Kranke in Mexiko. Dann wurde ein neues
Virus entdeckt. Und dann geriet die Welt in Panik. Vor zehn Jahren
breitete sich die Schweinegrippe um den Globus aus. Das verlief
glimpflich - aber eine neue Pandemie ist nur eine Frage der Zeit.

Genf (dpa) - Wie eine Chefärztin im weißen Kittel bei der Verkündung

einer gravierenden Diagnose sah Margaret Chan am 11. Juni 2009 aus,
als sie schlimmste Befürchtungen bestätigte: «Die Welt steht nun am
Anfang der 2009-Grippe-Pandemie», verkündete die damalige Chefin der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. Ein zuvor unbekanntes
Virus hatte sich innerhalb von Wochen um den Globus verbreitet und
viele Menschen sehr krank gemacht: Das Virus gehörte zum
A(H1N1)-Subtyp, ähnliche Viren waren bis dahin nur bei Schweinen
bekannt.

Wie gefährlich die Situation werden würde, wusste zu dem Zeitpunkt
niemand. Aber die Sorgen waren riesig, wie Sylvie Briand sagt. Sie
war damals verantwortlich für das WHO-Grippeprogramm, heute ist sie
WHO-Direktorin für Infektionsgefahrenmanagement. Jeder habe an die
Spanische Grippe 1918-20 mit bis zu 50 Millionen Toten gedacht, die
auch von einem Virus aus der (A)H1N1-Familie ausgelöst worden war.

«Wir hatten seit 2003 erst die Infektionskrankheit SARS, die in Asien
zu Grenzschließungen und Reiseeinschränkungen führte, dann die
Vogelgrippe (A)H5N1», sagt Briand der Deutschen Presse-Agentur in
Genf. «Und als sich alle Welt mit Impfstoffen auf eine neue
Vogelgrippe-Welle eingestellt hatte, tauchte dieses unbekannte neue
Virus auf, das sich auch noch rasend schnell verbreitete.» Von April,
als die ersten Fälle bekannt wurden, bis zum 11. Juni waren bereits
74 Länder betroffen, am Ende praktisch jedes Land der Welt.

«Wir hatten schnell erste Fälle in Deutschland und waren entsprechend

besorgt», sagt Silke Buda, Grippeexpertin beim Robert Koch-Institut
in Berlin. Das Institut ist für die Überwachung und Prävention von

Krankheiten zuständig. Anders als bei den bekannten saisonalen
Grippeviren sei nicht ein Großteil der Bevölkerung durch früheren
Kontakt oder eine Impfung immun gegen das neue Virus gewesen. «Die
Befürchtung war vorher: Wenn eine Pandemie kommt, dann mit vielen
schweren Erkrankungen und vielen Todesfällen.»

Die WHO sei auf das Schlimmste gefasst gewesen, sagt Briand: Eine
erste Auswertung der wenigen verfügbaren Daten aus Mexiko deutete auf
eine Sterblichkeitsrate von 27 Prozent hin. Das habe unter anderem
daran gelegen, dass die Krankenhäuser, die die Daten lieferten, nur
die schwersten Fälle zu Gesicht bekamen und viele dieser Menschen
tatsächlich starben. Die Menschen, die nach einer Infektion mit dem
neuen Virus lediglich Schnupfen und Fieber hatten und nicht zum Arzt
gingen, wurden nicht erfasst. Schnell wurde klar, dass die 27 Prozent
überzogen waren. Tatsächlich lag die Mortalität bei weniger als einem

Prozent, sagt Briand heute.

«Wir haben zwar relativ schnell gesehen, dass viele der
Krankheitsverläufe mild bis moderat waren», sagt Buda. «Wir konnten
aber nicht wissen, ob sich die Situation noch ändern würde.» Der
Höhepunkt der Erkrankungswelle wurde Mitte November erreicht, danach
flaute die Zahl ab. Es wurden rund 350 Todesfälle geschätzt - bei den
jedes Jahr wiederkehrenden Grippeepidemien können jeweils mehr als 20
000 Menschen ums Leben kommen, wie Buda sagt.

Die WHO war noch nicht auf das gerade beginnende Zeitalter sozialer
Medien eingestellt. Informationen verbreiteten sich dort rasend
schnell, nicht mehr nur über die bis dahin üblichen Medienkanäle. In

sozialen Medien wurde erst teils Panik geschürt, dann standen die
Behörden am Pranger. Die WHO traf der Vorwurf, sie habe unnötig Angst
verbreitet, ihre Entscheidungsfindung sei obskur gewesen und ihre
Pandemie-Definition zu kompliziert.

Bei einer unabhängigen Manöverkritik wiesen Experten zwei Jahre
später den Vorwurf zurück, die WHO habe sich von Beratern aus der
Pharmabranche dazu verleiten lassen, eine unnötige
Impfstoffproduktion anzukurbeln. Dass Massenimpfungen gar nicht nötig
waren, sei am Anfang der Pandemie nicht abzusehen gewesen, so Briand.

Die WHO sei heute aber besser auf eine mögliche Pandemie vorbereitet,
auch mit einer besseren Informationsstrategie, versichert sie. «Denn
eins ist klar: Es ist keine Frage «ob», sondern «wann» eine
neue Pandemie kommt», sagt Briand. Auch in Deutschland werde ständig

an der Vorbereitung auf eine Influenza-Pandemie gearbeitet und die
Notfallpläne würden weiterentwickelt, sagt Buda. Dabei geht es etwa
darum, dass im Ernstfall genügend Krankenhausbetten zur Verfügung
stehen, Medikamente da sind, Aufklärungskampagnen wie zum
Händewaschen und Abstand halten von Kranken geplant werden.

Inzwischen hat das heute offiziell «(A)H1N1pdm09» genannte Virus
weitgehend seinen Schrecken verloren. Es gehört zu den jährlich
auftretenden saisonalen Grippeviren mit dazu. Ein Drittel der
Weltbevölkerung sei infiziert worden, die meisten, ohne es zu wissen,
meint Briand.

«Wir hatten in der abgelaufenen Grippesaison 2018/19 rund 180 000
laborbestätigte Grippefälle, und wir schätzen, dass rund die Hälfte

davon (A)H1N1-Infektionen waren», sagt Buda. Weil viele Menschen mit
Grippesymptomen nicht auf Influenza getestet werden, liegt die wahre
Zahl deutlich höher. Akkurate Schätzungen liegen für die gerade
abgelaufene Grippesaison noch nicht vor. Im Jahr davor, im Winter
2017/18, waren vermutlich neun Millionen Menschen mit Grippe beim
Arzt, zweieinhalb Millionen davon mit A(H1N1).