Das Leben erfühlen Von Carlotta Sauer, dpa

Nichts sehen, nichts hören. Etwa 9000 taubblinde Menschen gibt es
nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Taubblinden in
Deutschland. Zum Sehbehindertentag am Donnerstag folgt ein Bericht
über ein Kind, das seine Welt erfühlen muss.

Würzburg (dpa) - Lucas ist neun Jahre alt. Wenn andere Kinder in
seinem Alter nicht zuhören möchten, laufen sie weg oder halten sich
die Ohren zu. Lucas ist taubblind. Seine Hände sind für ihn sein
Schlüssel zur Welt. Mit Handbewegungen beschreiben seine
Gesprächspartner Dinge und Tätigkeiten - ähnlich wie bei der
Gebärdensprache. Nur dass Lucas die Bewegungen nicht sehen kann,
sondern sie erfühlt. Er gebärdet taktil. Möchte er keinen Kontakt,
entzieht er anderen Menschen seine Hände.

Heute möchte Lucas zuhören. Der Neunjährige mit dem hellblonden
Kurzhaarschnitt ist seit seiner Geburt taubblind. Seitdem wird er vom
Würzburger Blindeninstitut gefördert. Seit fünf Jahren lebt er hier
in einer Wohneinrichtung, gemeinsam mit vier weiteren Jungen aus
Bayern. Das Blindeninstitut begleitet seit mehr als 160 Jahren
sehbehinderte Menschen in Würzburg, seit 40 Jahren gibt es einen
sogenannten Förderschwerpunkt für Taubblinde.

Erzieherin Stefanie Tröster führt Lucas in den Wohnraum. Sie geht
hinter ihm her und hält ihn sanft an beiden Armen. Nach ein paar
Schritten lässt Lucas los, tastet sich an der Wand entlang und geht
allein in die Küche. Tröster bereitet ihm eine Kiste mit Essen vor,
die sie gemeinsam an seinen Platz an der Stirnseite des Tisches
tragen. Die Erzieherin teilt Lucas mit, dass er nun essen könne.
Dafür legt sie ihre Hände unter seine - die Hände des Sprechers
liegen beim taktilen Gebärden immer unten - und führt seine Hand zum
Mund, die Gebärde für Essen. Danach streicht sie mit ihrer Hand über

seine. Lucas versteht: Er soll sich sein Brötchen schmieren.

Nacheinander nimmt Lucas die Gegenstände aus der Kiste, fühlt die
Brottüte und hält sich die Wurstpackung ganz dicht vor sein linkes
Auge. «Auf dem linken Auge hat Lucas einen winzigen Sehrest, mit dem
er noch Farben wahrnehmen kann», sagt Tröster. Da die Sehkraft
weniger als zwei Prozent beträgt, ist er per Definition blind. Auch
den orangenen Saft betrachtet Lucas ganz nah. Beim Einschenken hält
er seinen Finger im Glas an die Stelle, bis zu der er es füllen
möchte. Seine Bewegungen dauern, aber sie sind eingespielt.

Etwa 9000 Taubblinde gibt es nach Schätzung der
Bundesarbeitsgemeinschaft der Taubblinden bundesweit, der Bayrische
Blinden- und Sehbehindertenbund spricht von mehr als 370 Taubblinden
in Bayern. Wie viele es genau sind, wird statistisch nicht erfasst,
wie bei Blinden.

Lucas gebärdet beim Essen von seinem Tag. In der Schule war er beim
Schwimmen. An seinen Fingern zählt er ab - noch fünfmal schlafen,
dann darf er wieder ins Becken. Lucas' Gebärden sind teils
allgemeinverständlich, wie das «Ja»: eine Faust, die wie der Kopf
nickt. Teils erschaffen er und seine Betreuer eigene Zeichen.

Jede Person in Lucas' Umfeld bekommt eine Gebärde. Sein Mitbewohner
Patrick hat kurze fransige Haare. Die Gebärde für ihn ist Streichen
über die Stirn. «Besonders wichtig sind für Lucas
Erkennungsarmbänder, an ihnen erfühlt er Personen», sagt
Taubblindenassistentin Tabea Sadowski. Sie hat ihrem Schüler einen
Großteil des taktilen Gebärdens beigebracht.

Ihr Schützling hat ein sogenanntes Cochlea-Implantat, das
Audiosignale an das Gehirn überträgt. Seit einem Dreivierteljahr kann
Lucas damit etwas hören, aber seine Betreuer sind sich nicht sicher,
ob er bereits in der Lage ist, Sprache von anderen Geräuschen zu
unterscheiden. Er selbst gibt manchmal Laute von sich.

Knapp 70 Kinder und Jugendliche leben neben 290 Erwachsenen im
Würzburger Blindeninstitut. Ähnliche Taubblinden-Wohngemeinschaften
gibt es in Heilbronn und in Hannover. In Lucas' WG haben die Kinder
aufgrund ihrer Schwerbehinderung nur wenig Kontakt untereinander -
der Neunjährige ist einer von zwei Jungen, die nicht im Rollstuhl
sitzen. Alle haben ihr eigenes Zimmer, bei Lucas hängt darin eine
Sprossenwand. «Weil wir wissen, dass Lucas trotz seiner Taublindheit
sehr vorsichtig und koordiniert ist, hat er die Sprossenwand
bekommen», erklärt Frederik Merkt, Leiter des Jugendwohnens.

Diese Besonderheit hebt auch Barbara Büchner hervor. Sie trainiert
Lucas' Mobilität - übt mit ihm, sich zu orientieren. «Lucas ist sehr

neugierig, was ungewöhnlich für taubblinde Kinder ist», sagt sie.
Nicht sehen und nicht hören - Leben ohne die zwei wohl wichtigsten
Sinne, wer könnte das schon? Lucas kann. Er nutzt seinen Körper als
Maßeinheit. Auch sein Blindenstock hilft ihm. Lucas misst alles aus.

Den Weg zur Schule kennt der Neunjährige auswendig, sein Gedächtnis
ersetzt seine Augen. Zimmer der Lehrer erkennt er an ertastbaren
Holzsymbolen an den Türen. Am Anfang sei Lucas nur schwer für den
Langstock zu begeistern gewesen, erzählt Büchner. «Wir haben dann ein

leuchtendes Laser-Schwert umfunktioniert, das hat ihn fasziniert.» Es
sind solche kreativen Ideen, die Lucas Lebensqualität geben. Und vor
allem seinem Drang gerecht werden, kontinuierlich Neues zu entdecken.