Koalitionäre mahnen zur Ruhe - Szenarien über Regierungsumbildung Von Jörg Blank und Basil Wegener, dpa

Nicht nur die SPD leidet vor der Europawahl unter mauen
Umfragewerten. Das befeuert Gedankenspiele über mögliche personelle
Änderungen der Regierungsmannschaft der großen Koalition.

Berlin (dpa) - Eine Woche vor der Europawahl wächst in der Koalition
die Nervosität. Führende Koalitionspolitiker wandten sich gegen
Spekulationen über einen vorzeitigen Bruch des Regierungsbündnisses.
Verschiedene Szenarien machten für den Fall größerer Wahlverluste f
ür
Union und SPD die Runde. Demnach könnte das schwarz-rote
Regierungsbündnis auch dann stabil gehalten, aber dafür das
Bundeskabinett in größerem Umfang umgebildet werden.

Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sagte: «Die Union
bildet den größten Teil der Koalition, und wir sagen ganz deutlich,
dass wir diese Arbeit fortsetzen wollen.» Sie habe momentan auch
keine Signale der SPD, «dass sie es nicht will», sagte sie den
Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Außenminister Heiko Maas sagte der
«Passauer Neuen Presse» (Samstag): «Es erhöht nicht das Vertrauen
in
Politik, wenn ständig über ein Ende von Koalitionen spekuliert wird.»


Kramp-Karrenbauer trat auch Spekulationen über einen vorzeitigen
Wechsel im Kanzleramt entgegengetreten. «Bis 2021 ist Angela Merkel
Kanzlerin.» Sie selbst konzentriere sich auf ihre Arbeit als
Parteivorsitzende. «Ich gehe von der vollen Legislaturperiode aus,
und das ist auch meine Arbeitsplanung.» Die SPD hatte klar gemacht,
dass sie Kramp-Karrenbauer nicht zur Kanzlerin wählen wolle.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble wandte sich gegen so einen
vorgezogenen Wechsel. Eine Übergabe des Amtes innerhalb der
Legislaturperiode sei nicht einfach und entspreche «auch nicht dem
Geist des Grundgesetzes», sagte der CDU-Politiker im RBB-Inforadio.

Zuletzt hatte es immer wieder Spekulationen gegeben, nach denen die
Koalition gefährdet ist, wenn vor allem die SPD bei der Europawahl
und der gleichzeitigen Wahl in Bremen herbe Schlappen einfahren
sollte. Auch ein schlechtes Abschneiden der Union bei der Europawahl
könnte die Stabilität des Bündnisses zusätzlich infrage stellen. In

Umfragen haben beide Partner vergleichsweise wenig Zustimmung.

Die Kanzlerin könnte aber auch durch eine größere Kabinettsumbildung

einen neuen Aufbruch für die Koalition anstreben, wenn das
Wahlergebnis am kommenden Sonntag einen größeren Verlust an Vertrauen
in Union und SPD zeigen sollte. Nach Informationen von «Bild am
Sonntag» und der Deutschen Presse-Agentur werden dabei mehrere
mögliche Varianten erwogen. Demnach würden sich personelle
Veränderungen nicht darauf beschränken, dass die Justizministerin und
SPD-Spitzenkandidatin bei der Europawahl, Katarina Barley, nach ihrem
Wechsel ins Europaparlament ersetzt wird.

Bei diesen Szenarien genannt werden auf Seiten der CDU etwa
Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Verteidigungsministerin Ursula
von der Leyen, die nach Kritik an ihrer Amtsführung ersetzt werden
könnten. Altmaier könnte demnach EU-Kommissar werden, falls
Unionsspitzenkandidat Manfred Weber (CSU) damit scheitert,
Kommissionspräsident zu werden. Als möglicher Nachfolger gilt Jens
Spahn, der als Gesundheitsminister bereits eine beachtliche Bilanz
abgeschlossener oder angestoßener Gesetze vorlegen kann. Ihm
nachfolgen könnte demnach die Integrationsbeauftragte Annette
Widmann-Mauz, ehemals Gesundheitsstaatssekretärin. Auch
Bildungsministerin Anja Karliczek könnte den Gedankenspielen zufolge
ersetzt werden, etwa durch Kanzleramtschef Helge Braun.

Bei der SPD scheint die Zukunft von Franziska Giffey als
Familienministerin offen, abhängig vom Ergebnis der Prüfung ihrer
Doktorarbeit wegen Plagiatsverdachts durch die Freie Universität
Berlin. Nach einem Bericht der «Welt am Sonntag» gibt es in der
SPD-Fraktion bei mehreren Abgeordneten zudem Bestrebungen, Partei-
und Fraktionschefin Andrea Nahles im Fall großer Wahlverluste dazu
bewegen, auf das Spitzenamt in der Fraktion zu verzichten.

Weiter wurden inhaltliche Differenzen deutlich. Im Streit um eine
Grundrente bot Kramp-Karrenbauer der SPD zwar eine relativ schnelle
Einführung an. «Wir strecken die Hand aus den Sozialdemokraten. Wir
sind bereit, noch in diesem Jahr eine Grundrente einzuführen», sagte
sie beim CDU-Sozialflügel CDA am Samstag in Essen. «Aber es muss eine
Grundrente sein, bei der klar ist, es geht um die, die die Leistung
wirklich brauchen.» Deswegen werde es ohne eine Bedürftigkeitsprüfung

nicht gehen. SPD-Chefin Nahles pochte aber auf eine Umsetzung ohne so
eine Prüfung. Kluge Sozialpolitik sei immer auch gute
Wirtschaftspolitik, sagte sie dem «Spiegel». «Deswegen wird auch die

Grundrente kommen - ohne Wenn und Aber: Für alle, die 35 Jahre
gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben.»

Der frühere Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) warf der
Regierung im «Tagesspiegel» (Sonntag) mangelnde emotionale visionäre

Kraft vor: «Deutschland blockiert sich selbst und damit auch Europa.»