Zwischen Experiment und Wirklichkeit: Merkel im Bürger-Dialog Von Ulrike Hofsähs und Bettina Grönewald, dpa

An der Wuppertaler Junior-Uni für junge Schlauberger ist Physikerin
Merkel in ihrem Element. Auf den pittoresken Termin folgt aber
schwierigere Kost für die Kanzlerin: Im Bürger-Dialog konfrontieren
Jung und Alt sie mit ihren Problemen.

Wuppertal (dpa/lnw) - Die Bundeskanzlerin ist gelernte Physikern, das
wird sofort klar. «Tendenziell war das schon in Ordnung», sagte
Angela Merkel tröstend dem 12-jährigen Moritz und dem 13 Jahre alten
Joel. Das Experiment der beiden Schüler mit unterschiedlich haftenden
Profilen von Sportschuhen verlief nicht so eindeutig wie geplant.
Alle Schuhe rutschten eine kleine Rampe hinab. Aber die Richtung
stimmte.

An der Junior Uni in Wuppertal zeigten am Montag mehr als ein Dutzend
Schüler der Kanzlerin Versuche. Die ganzjährig geöffnete, durch
Spenden und Stiftungen geförderte Lehreinrichtung ist nach eigenen
Angaben bundesweit einmalig. In dem kunterbunten, modernen Gebäude
zwischen Schwebebahn und renovierungsbedürftigen Hausfassaden können
Kinder ab einem Alter von vier Jahren mit Spaß und Entdeckerfreude
lernen. Dass so viele Mädchen teilnahmen, freute die Kanzlerin
ausdrücklich. Sie sollten «nicht vergessen, wie toll
Naturwissenschaften sind», sagte Merkel.

Der kleine weiße Roboter des außerschulischen Lehrorts sagte zur
Begrüßung wie programmiert «Herzlich willkommen, Frau
Bundeskanzlerin». Dass man «Secundus» auch kitzeln und der Roboter
dann ein erfrischendes Lachen von sich gibt, machte Merkel Spaß. Im
Labor bekam sie einen dampfenden Trockeneis-Cocktail im Reagenzglas.
«Sie war ziemlich überrascht», berichtete der 13-jährige Laurin, de
r
zum Spaß auch noch einen weißen Kittel und Schutzbrille trug. Genippt
hat die Kanzlerin aber trotzdem.

Einen Tischtennisball im Luftstrom eines Haartrockners zu balancieren
- darin zeigte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) ziemliches
Geschick. Er begleitete die Kanzlerin. Bei Merkel klappte es nicht so
gut. Sie sei ja theoretische Physikerin gewesen, kommentierte die 64
Jahre alte CDU-Politikerin.

In der vom Strukturwandel getroffenen Industriestadt Wuppertal mit
vielen Arbeitslosen ist die seit 2008 bestehende Junior Uni ein
Lichtblick. Die Gebühren von fünf Euro für vier Termine sind eher
kleines Geld. Etwa 8000 Kinder und Jugendliche auch aus der weiteren
Umgebung schreiben sich jedes Jahr ein.

Weniger fröhlich ging es beim Anschluss-Termin der Kanzlerin zu,
ihrem ersten Bürgerdialog zu dem Thema «70 Jahre Grundgesetz».
Insgesamt 70 Männer und Frauen aus den Partnerstädten Wuppertal und
Schwerin hatten die «Westdeutsche Zeitung» und die «Schweriner
Volkszeitung» für das Gespräch mit der Kanzlerin ausgewählt.

Und hier wurde sie konfrontiert mit der ganzen Härte menschlichen
Lebens: eine Frau, die als Kind Opfer sexuellen Missbrauchs wurde,
empörte junge Leute, die mehr Engagement im Umwelt- und Klimaschutz
fordern, Männer und Frauen, die sich über einen wachsenden
Rechtsruck, ertrinkende Flüchtlinge, ausufernden Kapitalismus oder
mangelnde Gleichberechtigung sorgen.

Geschmeidig umschiffte die routinierte Politikerin auch hier alle
Klippen und blieb keine Antwort schuldig - ohne allerdings überall
konkrete Lösungen anzubieten. Etwa zur Benachteiligung von Frauen:
«Ran an den Speck», ermutigte die Kanzlerin ihre
Geschlechtsgenossinnen. Wer etwas bewegen wolle, müsse sich eben auch
«in die Schlacht werfen».

Überraschend waren die pragmatischen Ansichten der als so solide und
penibel eingeschätzten Kanzlerin zur Protestbewegung «Fridays for
Future». Ein Gesamtschulleiter aus Solingen berichtete, dass er bei
den Freitagsdemos nicht einfach auf die Schulpflicht poche, sondern
zusammen mit den Schülern kreative Lösungen suche, sie abwechselnd
ziehen zu lassen, ohne Prüfungen zu gefährden. «Ich setze auf Leute
wie Sie», lobte die Kanzlerin. Mit pauschalen Verboten - «niemals und
gar nicht» - sei der Konflikt nicht zu lösen.

Die 64-Jährige äußerte zudem Verständnis für die Protestbewegung.

«Die jungen Menschen machen uns Dampf. Ich finde das auch richtig»,
unterstrich sie. «Es bricht einem fast das Herz, wie Raubbau an der
Natur betrieben wird.» Zwei jungen, von spürbarer Ungeduld
getriebenen Umweltschützern verriet Merkel auch ihren persönlichen
Beitrag zum Klimaschutz an ihrem alten Wochenendhaus: «Wärmedämmung!
»

Sie werde bis zum Ende ihrer Amtszeit alles daran setzen, dass die
Bundesregierung ihr Klimaziel schaffe, den CO2-Ausstoß in Deutschland
bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren, versprach sie. «Das will ich
noch so machen, dass das was wird.»