Tausendfacher Tod: Masern zeigen in Madagaskar ihre verheerende Macht Von Laetitia Bezain und Jürgen Bätz, dpa

In vielen Ländern weltweit schlagen die Masern zu wie lange nicht
mehr. In Deutschland werden nun Pläne für eine Impfpflicht konkreter.
In Madagaskar ist nur etwa die Hälfte aller Kinder geimpft. Einer der
weltgrößten Ausbrüche zeigt dort die furchtbaren Folgen.

Iarintsena (dpa) - Der fünf Monate alte Isaïa hätte nicht sterben
müssen. Eine einfache Impfung hätte sein Leben wohl gerettet. Seine
Mutter Lalatiana Ravonjisoa ist nach dem Masern-Tod des Jungen
verzweifelt. «Ich werfe mir vor, nicht genug getan zu haben. Aber ich
dachte zu keinem Zeitpunkt, dass er sterben würde», sagt die
35-Jährige. Isaïa ist eines von inzwischen schon mehr als 1200
Todesopfern der seit Monaten andauernden Masern-Epidemie in
Madagaskar. Mit rund 120 000 Erkrankungen seit September ist der
Ausbruch in dem Inselstaat einer der derzeit größten der viralen
Krankheit weltweit.

«Er ist nur eine Woche nach dem ersten Fieber gestorben», sagt
Ravonjisoa. Als der Kleine krank wurde, habe sie sich keinen
Arztbesuch leisten können, erzählt die Gemüseverkäuferin aus der
Hauptstadt Antananarivo. Sie gab ihrem Sohn ein Medikament, um das
Fieber zu senken. Es schien ihm bald besser zu gehen. An seinem
Todestag im Januar hatte sie sich Isaïa auf den Rücken gebunden, um
wie immer auf der Straße ihr Gemüse zu verkaufen. Als sie später
wieder nach Hause kam, waren seine Füße schon kalt. Isaïa war tot.

Die Epidemie in dem Inselstaat vor der Südostküste Afrikas ist dabei
kein Einzelfall. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlug am
Montag Alarm: Die Zahl der von Januar bis März gemeldeten Fälle lag
viermal so hoch wie Vorjahreszeitraum. 170 Länder meldeten demnach
zusammen rund 112 000 Erkrankungen, verglichen mit 28 000 im Jahr
2018. Die tatsächliche Zahl liege noch deutlich höher, warnte die
WHO. Sie geht davon aus, dass nur jeder zehnte Fall gemeldet wird.

Die WHO spricht von einer beunruhigenden Rückkehr vermeidbarer
Krankheiten. Die Kinderkrankheit Masern ist extrem ansteckend und
kann in Einzelfällen noch Jahre später zu potenziell tödlichen
Hirnentzündungen führen. Inzwischen werden aus Europa, den USA,
Afrika und Asien Epidemien gemeldet.

Zu den Gründen für die Zunahme der Krankheitsfälle in entwickelten
Ländern gehört eine zunehmende Impfmüdigkeit, verbunden mit der Angst

vor angeblichen Nebenwirkungen. Die WHO zählt mangelnde
Impfbereitschaft bereits zu den größten Gesundheitsrisiken der Welt.
Es handelt sich nicht um ein abstraktes Risiko: Vor Einführung der
Masern-Impfung starben 1980 nach WHO-Daten rund 2,6 Millionen
Menschen an der Viruskrankheit, 2016 waren es noch rund 100 000, vor
allem in ärmeren Ländern.

In Deutschland, wo fast 95 Prozent aller Schulanfänger beide
empfohlenen Masern-Impfungen erhalten haben, kann sich kaum noch
jemand daran erinnern, dass Masern auch tödlich verlaufen können.
Doch die Zahl der Erkrankungen nimmt wieder zu. Dem zuständigen
Robert Koch-Institut in Berlin wurden 2018 Daten zu 543 Masern-Fällen
übermittelt. Zu einem großen Anstieg kam es demnach zuletzt auch in
der WHO-Region Europa: 2017 seien dort 23 927 Menschen erkrankt -
2016 waren es nur 5273.

Die Rückkehr der Masern hat bereits zu Forderungen nach einer
Impfpflicht geführt. Anfang Mai wird dazu ein Vorschlag von
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erwartet. Einzelne
Bundesländer wie Brandenburg und Nordrhein-Westfalen wollen mit
eigenen Regelungen vorangehen. Bundesfamilienministerin Franziska
Giffey (SPD) hatte Ende März gesagt: «Die Gesundheit und der Schutz
der gesamten Bevölkerung setzen der individuellen Freiheit Grenzen.»
In New York rief die Stadt kürzlich nach einem Anstieg der
Masern-Fälle einen Notstand für Teile des Stadtviertels Brooklyn aus
und ordnete eine Impfpflicht an. Verweigerern drohen Geldstrafen.

Die Behörden in Madagaskar, einem der 30 ärmsten Länder der Welt,
sind mit dem jüngsten Masern-Ausbruch überfordert. «Die Epidemie
breitet sich leider immer weiter aus», erklärt der WHO-Epidemiologe
Dossou Vincent Sodjinou. Fast alle Landesteile sind demnach
betroffen. Die Epidemie fordere auch deshalb so viele Opfer, weil
etwa die Hälfte aller Kinder mangelernährt sei und daher ein bereits
geschwächtes Immunsystem habe.

Das Virus hatte in Madagaskar leichtes Spiel, weil jahrelang nur gut
die Hälfte aller Kinder geimpft wurden. Das lag nicht an Impfgegnern,
sondern daran, dass dem Staat die Mittel für Auflärungs- und
Impfkampagnen fehlen. Die WHO will in dem Land mit 26 Millionen
Einwohnern nun rund 7,2 Millionen Kinder impfen lassen.

Im kleinen Gesundheitszentrum von Iarintsena, einem Ort rund 500
Kilometer südlich von Antananarivo, erklärt eine Krankenschwester
Müttern die Notwendigkeit der Masern-Impfung. «Kitrotro», wie die
Krankheit auf madagassisch heißt, hat sich in den umliegenden Dörfern
breitgemacht. Die junge Mutter Nifaliana Razaijafisoa ist mit ihrem
fiebernden Baby rund 15 Kilometer gelaufen, um Hilfe zu suchen. Der
sechs Monate alte Sarobidy hat Masern. «Ich habe solche Angst um ihn.
Im Dorf sagen alle, dass die Krankheit Kinder töten kann», sagt die
18-jährige Mutter.

Weltweit sind vor allem ärmere Länder von Masern betroffen. Im
zentralafrikanischen Kongo etwa haben die Behörden seit Jahresanfang
bereits rund 41 000 Erkrankungen und 760 Masern-Tote gezählt, auf den
Philippinen erlagen der Krankheit 355 Menschen. Bei den Opfern
handelt es sich überwiegend um Kinder im Alter von bis zu fünf
Jahren.

In Madagaskar sind vor allem ländliche Bezirke betroffen, aber auch
Antananarivo bleibt nicht verschont. Die sechs Kinder von
Marie-Jeanne Randriamahefy im Alter von 4 bis 20 Jahren hatten dort
im Dezember alle Masern. «Ich hatte das Gefühl, einer nach dem
anderen würde mir wegsterben», sagt die 44-Jährige. Sie sei tagsübe
r
als Putzfrau arbeiten gegangen, abends habe ihr Zuhause einem
Krankenhaus geglichen. «Drei Kinder lagen in einem Bett, die drei
übrigen im anderen Bett», erzählt sie. «Ich wusste nicht, was ich
machen sollte.»

Für einen Arzt hatte auch Randriamahefy kein Geld, also brachte sie
ihre vier Jahre alte Tochter zu einem Tiermediziner. Doch dessen
Medikamente brachten keine Linderung. Schließlich lieh sie sich Geld,
um die Kleine in ein Krankenhaus zu bringen, wie sie unter Tränen
erzählt. Inzwischen hat die Regierung angeordnet, Masern-Patienten
kostenlos zu behandeln. Randriamahefys Kinder haben überlebt, aber
die Mutter macht sich Vorwürfe: «Ich habe die Kinder nicht impfen
lassen. Es ist meine Schuld, dass sie fast gestorben sind.»