«Keiner hat ihm geholfen» - BGH hebt OLG-Urteil zu Erster Hilfe auf Von Susanne Kupke und Christopher Hirsch, dpa

Ein Schüler kollabiert im Sportunterricht und erleidet irreversible
Hirnschäden. Hätte das verhindert werden können? Der BGH betont die
Pflicht eines Lehrers zur rechtzeitigen Ersten Hilfe - und eröffnet
einem jungen Mann aus Wiesbaden neue Chancen.

Karlsruhe (dpa) - Sören Z. stand kurz vor dem Abitur und hatte große
Pläne. Bis zu jenem Nachmittag am 13. Januar 2013. Fünf Minuten nach
Beginn des Aufwärmtrainings im Sportunterricht hört der 18-Jährige
mit dem Laufen auf. Der Gymnasiast aus Wiesbaden hat Kopfschmerzen.
Er sackt an der Wand zusammen, ist nicht mehr ansprechbar. Die
Lehrerin alarmiert den Notarzt. Doch bis der kommt, vergeht wertvolle
Zeit. Acht Minuten Bewusstlosigkeit ohne jegliche Laienreanimation,
heißt es später im Klinikbericht. Der Schüler erleidet schwerste
Hirnschäden durch Sauerstoffmangel.

Hätte das Schicksal des Jungen verhindert werden können? Der
Bundesgerichtshof (BGH) betont am Donnerstag die Pflicht eines
Sportlehrers für rechtzeitige Erste Hilfe und hebt ein Urteil des
Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf. Die höchsten deutschen
Zivilrichter eröffnen dem jungen Mann damit eine Chance auf
Schmerzensgeld und Schadenersatz.

«Es ist eine tragische Sache.» So leitet der Vorsitzende Richter
Ulrich Herrmann vor zwei Wochen die mündliche BGH-Verhandlung ein.
Auf der einen Seite sitzen ihm Vertreter des hessischen
Kultusministeriums gegenüber, auf der anderen Seite der Vater des
Jungen. Er ringt sichtlich mit Fassung, als die entscheidenden
Minuten vor dem höchsten deutschen Zivilgericht rekapituliert werden.
«Das hätte so nicht sein müssen, wenn entsprechend Hilfe geleistet
worden wäre. Keiner hat ihm geholfen», sagt der Vater danach.

Sein heute 24-jähriger Sohn hat das Land Hessen wegen unzureichender
Erste-Hilfe-Maßnahmen verklagt. Er fordert mindestens 500 000 Euro
Schmerzensgeld, gut 100 000 Euro für die Erstattung materieller
Schäden, eine monatliche Mehrbedarfsrente von etwa 3000 Euro sowie
die Feststellung, dass Hessen auch für künftige Kosten aufkommen
soll. Die Familie klagt, damit so etwas nie mehr in einer Schule
passiert, sagt der Vater. Und: «Wir wollen, dass unser Sohn versorgt
ist, wenn wir nicht mehr sind.»

Vor dem Landgericht Wiesbaden und dem Frankfurter Oberlandesgericht
(OLG) war die Klage erfolglos geblieben. Es sei nicht sicher, ob sich
mögliche Fehler der Lehrer bei der Ersten Hilfe kausal auf den
Gesundheitszustand des Klägers ausgewirkt hätten. Ein
Sachverständiger wurde nicht hinzugezogen. Das rügt nun der BGH.

Das OLG muss in neuer Verhandlung mit Hilfe eines Gutachters klären,
ob eine Amtspflichtverletzung ursächlich für die Behinderung war. Nur
wenn ein Zusammenhang zwischen unterlassener Reanimation und der
Behinderung bewiesen wird, hat Sören Z. Anspruch auf Schadenersatz
und Schmerzensgeld durch das Land Hessen.

Dass nicht alles gut lief, wird bei der BGH-Verhandlung deutlich. Von
einer «Verkettung unglücklicher Umstände» spricht die Anwältin de
s
hessischen Kultusministeriums. «Ein ganz tragischer und unglücklicher
Ausnahmefall.» Grobe Fahrlässigkeit weist sie zurück - und auch, dass

acht Minuten nichts passiert sei. Lehrer könnten nicht damit rechnen,
dass ein Schüler aus heiterem Himmel plötzlich zusammenbricht.

Die Lehrerin und ein ebenfalls anwesender Kollege waren nicht
untätig: Sören Z. wird nach Anweisung der Rettungsleitstelle in die
stabile Seitenlage gebracht. Der Puls wird gefühlt. Doch ob der
Schüler noch atmet, wird nicht kontrolliert. Es gibt weder eine
Mund-zu-Mund-Beatmung noch eine Herzdruckmassage. Obwohl der Schüler
nach Zeugenaussagen schon blau gewesen sei, hätten zwei Lehrer acht
Minuten lang «nichts» zur Wiederbelebung getan, sagt der Anwalt des
Jungen vor dem BGH.

Sein Vater, selbst lange Betriebssanitäter, versteht nicht, wie das
passieren konnte. «Man kann nichts falsch machen bei einer
Wiederbelebung.» Das betont auch der Bundesarzt des Deutschen Roten
Kreuzes, Peter Sefrin. Aus Furcht werde in vielen Fällen nichts
getan, bis der Notarzt kommt. Bis dahin würden Chancen möglicherweise
vertan. Dabei, so sagt der Mediziner, sei es das einzig Falsche,
nichts zu tun.

Sören Z. wollte Biochemie studieren. Nun ist er zu 100 Prozent
schwerbehindert und muss rund um die Uhr von seiner Familie betreut
werden. Der 24-Jährige kann sprechen, ihm steht ein Sonderschullehrer
zur Seite, und er hat in der Reha Fortschritte gemacht. Doch niemand
weiß, wie weit die noch gehen, sagt sein Vater. Der Vater hofft auf
ein OLG-Urteil zugunsten des Sohnes. Dann stehen diesem ganz andere
Hilfen zur Verfügung, sagt er.