«Keiner hat ihm geholfen» - BGH urteilt über Erste Hilfe in Schule Von Susanne Kupke, dpa

Ein Schüler kollabiert im Sportunterricht und erleidet irreversible
Hirnschäden. Nun urteilt der Bundesgerichtshof über den tragischen
Fall aus Wiesbaden. Welche Erste Hilfe muss ein Lehrer im Notfall
leisten?

Karlsruhe (dpa) - Er stand kurz vor dem Abitur und hatte große Pläne.
Bis zu jenem Nachmittag im Januar 2013. Fünf Minuten nach Beginn des
Aufwärmtrainings im Sportunterricht hört ein 18-Jähriger mit dem
Laufen auf. Der Gymnasiast aus Wiesbaden hat Kopfschmerzen. Er sackt
an der Wand zusammen, ist nicht mehr ansprechbar. Die Lehrerin
alarmiert den Notarzt. Doch bis der kommt, vergeht wertvolle Zeit.
Acht Minuten Bewusstlosigkeit ohne jegliche Laienreanimation, heißt
es später im Klinikbericht. Der Schüler erleidet schwerste
Hirnschäden durch Sauerstoffmangel. Hätte das Schicksal des Jungen
verhindert werden können? Was müssen Lehrer im Notfall tun? Darüber
entscheidet an diesem Donnerstag (9.45 Uhr) der Bundesgerichtshof
(BGH).

«Es ist eine tragische Sache.» So leitet der Vorsitzende Richter
Ulrich Herrmann vor zwei Wochen die mündliche BGH-Verhandlung ein.
Auf der einen Seite sitzen ihm Vertreter des hessischen
Kultusministeriums gegenüber, auf der anderen Seite der Vater des
Jungen. Er ringt sichtlich mit Fassung, als die entscheidenden
Minuten vor dem höchsten deutschen Zivilgericht rekapituliert werden.
«Das hätte so nicht sein müssen, wenn entsprechend Hilfe geleistet
worden wäre. Keiner hat ihm geholfen», sagt er danach.

Sein heute 24-jähriger Sohn hat das Land Hessen wegen unzureichender
Erste-Hilfe-Maßnahmen verklagt. Er fordert mindestens 500 000 Euro
Schmerzensgeld, gut 100 000 Euro für die Erstattung materieller
Schäden, eine monatliche Mehrbedarfsrente von etwa 3000 Euro sowie
die Feststellung, dass Hessen auch für künftige Kosten aufkommen
soll. Die Familie klagt, damit so etwas nie mehr in einer Schule
passiert, sagt der Vater. Und: «Wir wollen, dass unser Sohn versorgt
ist, wenn wir nicht mehr sind.»

Vor dem Landgericht Wiesbaden und dem Oberlandesgericht (OLG)
Frankfurt blieb die Klage erfolglos. Es sei nicht sicher, ob mögliche
Fehler der Lehrer bei der Ersten Hilfe sich kausal auf den
Gesundheitszustand des Klägers ausgewirkt hätten.

Dass nicht alles gut lief, wird bei der BGH-Verhandlung deutlich. Von
einer «Verkettung unglücklicher Umstände» spricht die Anwältin de
s
hessischen Kultusministeriums. «Ein ganz tragischer und unglücklicher
Ausnahmefall.» Grobe Fahrlässigkeit weist sie zurück - und auch, dass

acht Minuten nichts passiert sei. Lehrer könnten nicht damit rechnen,
dass ein Schüler aus heiterem Himmel plötzlich zusammenbricht.

Die Lehrerin und ein ebenfalls anwesender Kollege waren nicht
untätig: Der Junge wird nach Anweisung der Rettungsleitstelle in die
stabile Seitenlage gebracht. Der Puls wird gefühlt. Doch ob der
Schüler noch atmet, wird nicht kontrolliert. Es gibt weder eine
Mund-zu-Mund-Beatmung noch eine Herzdruckmassage. Obwohl der Schüler
nach Zeugenaussagen schon blau gewesen sei, hätten zwei Lehrer acht
Minuten lang «nichts» zur Wiederbelebung getan, sagt der Anwalt des
Jungen vor dem BGH.

Sein Vater, selbst lange Betriebssanitäter, versteht nicht, wie das
passieren konnte. «Man kann nichts falsch machen bei einer
Wiederbelebung.» Das sagt auch der Bundesarzt des Deutschen Roten
Kreuzes, Peter Sefrin. Aus Furcht werde in vielen Fällen nichts
getan, bis der Notarzt kommt. Bis dahin würden Chancen möglicherweise
vertan. Dabei, so sagt der Mediziner, sei es das einzig Falsche,
nichts zu tun.

Der junge Mann aus Wiesbaden wollte Biochemie studieren. Nun ist er
zu 100 Prozent schwerbehindert und muss rund um die Uhr von seiner
Familie betreut werden. Der Vater hofft, dass der BGH die
OLG-Entscheidung aufhebt. Mit einem Urteil zu seinen Gunsten stünden
dem Sohn auch ganz andere Hilfen zur Verfügung, sagt der Vater.