«Aufstehen»: Wagenknecht zieht sich aus erster Reihe zurück

Erst wollte sie «Aufstehen». Jetzt, wo klar ist, dass ihre neue
Bewegung wohl dauerhaft nur ein Nischendasein führen wird, will Sahra
Wagenknecht zur Seite treten. Sie spricht auch von «extremem Stress».

Berlin (dpa) - Ein halbes Jahr nach Gründung ihrer linken
Sammlungsbewegung «Aufstehen» will sich Linksfraktionschefin Sahra
Wagenknecht aus der Führung zurückziehen. «Wir brauchen eine
Neuaufstellung an der Spitze von «Aufstehen»», sagte die 49-Jährige

der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung». «Die Parteipolitiker
sollten sich zurücknehmen, das betrifft auch mich selbst. Sie waren
mit ihren Erfahrungen anfangs notwendig. Aber jetzt ist es richtig,
Verantwortung abzugeben.»

Wagenknecht hatte «Aufstehen» Anfang September zusammen mit ihrem
Ehemann Oskar Lafontaine gestartet, um linke Wähler zu erreichen, die
sich von den klassischen Parteien abgewendet haben. Bei der Linken
stieß sie damit auf viel Ablehnung, auch die Spitzen von SPD und
Grünen reagierten skeptisch. Heute zählt die Bewegung nach eigenen
Angaben rund 170 000 Unterstützer, spielt politisch aber keine
sichtbare Rolle. Anders als bei Parteien muss man keinen
Mitgliedsbeitrag zahlen und kann sich einfach im Internet anmelden.

Politiker anderer Parteien reagierten mit Häme, aber auch aus den
eigenen Reihen gab es Kritik. «Wagenknecht bleibt liegen. Will nicht
mehr aufstehen. Die Arbeit sollen jetzt andere machen. Peinlich»,
twitterte der SPD-Politiker Johannes Kahrs. Der CDU-Politiker
Sebastian Steineke schrieb: «Aufstehen ist schon wieder am Ende, der
linke Traum bleibt wie zu erwarten eine bloße Utopie.»

Der Linken-Abgeordnete Norbert Müller forderte Konsequenzen:
«Aufstehen hat unsere Partei 1,5 Jahre lang gelähmt. Die
Verantwortlichen dafür können sich jetzt nicht einfach wegschleichen
und so tun, als sei nix gewesen», twitterte er. Die parteilose
Abgeordnete Anke Domscheit-Berg, die ebenfalls für die Linke im
Bundestag sitzt, erklärte: «Man kann Bewegungen nicht von oben
anordnen und nicht undemokratisch führen.» Es habe Partei und
Fraktion sehr belastet, dass Wagenknecht lange «inhaltliche
Widersprüche» vertreten habe. «Ob ihr Rücktritt von Aufstehen das
ändert, wird sich zeigen.»

Wagenknecht hatte in den vergangenen zwei Monaten aus
Krankheitsgründen pausiert und deshalb auch beim Linken-Parteitag in
Bonn gefehlt. Auf Facebook versicherte sie am Sonntag, sie werde die
Bewegung weiter mit aller Kraft unterstützen. Der «FAS» sagte sie:
«Aber ich muss auch sehen, welches Arbeitspensum ich schaffe. Dass
ich jetzt zwei Monate krankheitsbedingt ausgefallen bin, hatte auch
mit dem extremen Stress der letzten Jahre zu tun. Da muss ich eine
neue Balance finden.»

Die Fraktionschefin gestand zugleich Fehleinschätzungen ein und griff
auch die eigene Parteispitze an. «Die Parteien, die wir ansprechen
wollten, haben sich eingemauert», sagte sie. Für viele ihrer
Forderungen habe es keine Mehrheiten im Bundestag gegeben, aus dieser
Sackgasse habe man herauskommen wollen. «Aber die Parteiführungen von
SPD und Linker fühlen sich in der Sackgasse offenkundig so wohl, dass
sie die Chance, die «Aufstehen» mit seiner großen Resonanz bedeutet
hat, ausgeschlagen haben.»

Außerdem habe sie den Organisationsaufwand falsch eingeschätzt,
räumte Wagenknecht ein: «Ich habe die Schwierigkeit unterschätzt, auf

rein ehrenamtlicher Basis solide Strukturen für so viele Menschen zu
schaffen und unsere Unterstützer dann auch in großer Zahl auf die
Straße zu bringen.» Die Bewegung könne «besser leben, wenn sie dene
n
übergeben wird, die sie an der Basis ohnehin tragen».

Mitstreiter aus der Führungsriege zeigte sich überrascht von
Wagenknechts Plänen. «Wir haben es auch nur aus der Presse erfahren
und müssen uns erstmal beraten», sagte der Bundestagsabgeordnete
Marco Bülow dem «Neuen Deutschland». Bülow war Ende 2018 aus der SP
D
ausgetreten und sitzt im vorläufigen Vorstand von «Aufstehen».

Der ehemalige Linksparteichef Lafontaine sagte der «Bild am Sonntag»,
«Aufstehen» sei sehr gut gestartet. «So ist bewiesen: Der Bedarf nach

einer Politik, die das Soziale wieder in den Mittelpunkt rückt, ist
groß.» Er fügte hinzu: «Wir brauchen Zeit, um eine funktionierende

Organisation aufzubauen.» Trotz guter Umfrageergebnisse habe man «auf
Drängen vieler Mitglieder» darauf verzichtet, bei den Europa-Wahlen
anzutreten, «weil wir keine Aufspaltung des linken Lagers wollen».