Dunkles Kapitel: Studie zu sexuellem Kindesmissbrauch in der DDR Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Kindesmissbrauch passte in der DDR nicht ins Ideal einer
sozialistischen Gesellschaft. Dass es ihn aber gab, belegen immer
mehr Anhörungen von Betroffenen. Eine neue Studie bringt mehr Licht
in das Dunkel.

Berlin (dpa) - Eltern, die ihre Kinder für den Strich verkaufen, und
Erzieher als Sex-Gewalttäter: Einer neuen Fallstudie zufolge gehörte
auch das zu den Realitäten in der DDR. In die Untersuchung flossen
persönliche Schicksale von mehr als 100 Männern und Frauen ein, die
als Kinder und Jugendliche in der DDR sexuelle Übergriffe erlebten,
teilte die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen
Kindesmissbrauchs am Mittwoch in Berlin mit. Forscher nennen die
Ergebnisse erschütternd.

Die Betroffenen haben der Kommission ihre Leidensgeschichten erzählt
oder geschrieben - oft nach Jahrzehnten des Schweigens. Manche von
ihnen hatten vorher noch nie darüber gesprochen. Da Kindesmissbrauch
im Ideal einer sozialistischen Gesellschaft nicht existierte, sei er
in der DDR mehr und länger totgeschwiegen worden als in
Westdeutschland, sagt Cornelia Wustmann, Professorin für soziale
Beziehungen an der Technischen Universität Dresden. Das gelte
insbesondere für die 1970er und 1980er Jahre.

Corinna Thalheim, Vorstandsvorsitzende der Betroffeneninitiative
«Missbrauch in DDR-Heimen», gibt ihre Geschichte offen preis. Mitte
der 1980er Jahre habe sie mit 16 die Schule geschwänzt. «Ich bin
deshalb in den Jugendwerkhof Lutherstadt Wittenberg gekommen», sagt
sie. Nach drei Fluchtversuchen sei sie in den berüchtigten
Jugendwerkhof Torgau gekommen. «Dort gab es so viel organisierte
Gewalt und Missbrauch, dass es mir mein Leben ruiniert hat», sagt sie
heute.

Die Untersuchung ist nicht repräsentativ, wirft aber weitere
Schlaglichter auf ein dunkles Kapitel der DDR. Noch deutlich häufiger
als in Heimen kam es nach der Fallstudie in Familien zu sexueller
Gewalt. Zu den Tätern zählten nach der Untersuchung Väter, Mütter,

Großväter, Brüder und Cousins - es ging bis hin zu
Gruppenvergewaltigungen. Rund 20 Betroffene berichteten bisher von
organisiertem Missbrauch, bei der Kinder für sexuelle Dienste
verkauft oder wie eine Ware gegen andere Leistungen getauscht wurden.
«Ich habe anfangs auch gedacht, das kann es doch in der DDR nicht
gegeben haben», sagt die ostdeutsche Forscherin Wustmann. «Ich war
selbst betriebsblind sozialistisch.»

Der fortgeschrittene Sozialismus habe als deliktfreie Gesellschaft
gegolten, erläutert Wustmann. Dogmatisch sei propagiert worden, dass
es keine sexuelle Gewalt gebe. Deshalb seien diese Fälle auch nicht
in der Kriminalstatistik aufgetaucht. Um nach außen als heile
sozialistische Familie zu wirken, habe es oft nach innen
Schweigegebote und Verleugnung der Straftaten gegeben. Opfer hätte
sich kaum jemanden anvertrauen können, Therapieangebote habe es
selten gegeben. «Verdrängen wurde so für viele Opfer zur
Überlebensstrategie», resümiert sie.

Bedrückend für viele Missbrauchsopfer in der DDR war, dass ihnen auch
nach dem Mauerfall zunächst kaum jemand zuhörte. Seit der
Heimkinderfonds 2014 für neue Anträge geschlossen worden sei, gebe es
bis heute auf Bundesebene keine finanziellen Hilfen für Therapien.
Auch im neuen Opferschutzgesetz sei dazu nichts vorgesehen. Thalheims
Betroffeneninitiative fordert nun einen eigenen Hilfsfonds beim
Bundesfamilienministerium.

Missbrauchsopfer in der DDR seien bisher durch alle Raster gefallen,
bilanziert auch die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine
Bergmann. «Die vertraulichen Anhörungen bedeuten für Betroffene
Anerkennung», ergänzt sie. «Dort wird jetzt das geglaubt, was
jahrzehntelang nicht geglaubt wurde.»