Ab 80 unters Messer: Zahl der Herz-OPs im Alter steigt Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Erst ins Pflegeheim und dann in den OP: In Deutschland gibt es
deutlich mehr Herz-Operationen bei hochbetagten Menschen als früher.
Warum ist das so?

Berlin (dpa) - Soll Uroma mit 91 eine neue Herzklappe bekommen? Ärzte
in Deutschland haben solche Fragen in den vergangenen Jahren immer
häufiger mit Ja beantwortet. Die Zahl der Herzoperationen bei
betagten Patienten über 80 ist seit dem Jahr 2000 deutlich gestiegen,
belegt der Deutsche Herzbericht 2018, der am Donnerstag in Berlin
vorgestellt wurde. Und zwar so stark, dass sich dieser Zuwachs allein
mit der alternden Bevölkerung nicht erklären lässt.

Die Zahlen sind im neuen Bericht dokumentiert. Gab es im Jahr 2000 in
Deutschland rund 4225 Herz-Operationen bei Senioren der Generation 80
Plus, waren es nach der jüngsten Zahl für 2017 bereits 16 242.

Kritiker fragen nun, ob Krankenhäuser Geld mit Operationen verdienen,
die alte Menschen vielleicht nicht brauchen. Dietrich Andresen,
Vorsitzender der Deutschen Herzstiftung, kann solche Fragen
verstehen. Es sei etwas dran, dass in Deutschland jenseits der 80 zum
Beispiel mehr Schrittmacher und Stents eingesetzt würden als in
anderen europäischen Ländern. «Es wird aber nicht zu viel operiert»
,
betont Andresen.

Einen wesentlichen Effekt auf die steigenden Operationszahlen im
Alter habe die Narkose, erläutert Herzmediziner Andresen. Sie könne
heute deutlich schonender ablaufen als vor 20 Jahren. Ein 80-Jähriger
sei damit weniger gefährdet, durch die Beatmung später Lungen- oder
Nierenschäden zu riskieren. Dazu kämen neue OP-Methoden. «Das heißt
,
der Brustkorb muss nicht mehr geöffnet werden.»

Wolfgang Harringer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Thorax-,
Herz- und Gefäßchirurgie, kann sich noch gut an früher erinnern. «A
ls
ich Ende der 80er Jahre als Herzchirurg anfing, gab es bei Patienten
über 70 keine Operationen am Herzen. Das war meist viel zu riskant»,
berichtet er. Herzklappenersatz oder Reparatur - das seien früher
Operationen von drei bis vier Stunden am offenen Herzen gewesen, dazu
Narkose und Nachsorge auf der Intensivstation. Heute dauere das rund
60 Minuten. Die OP werde über die Leistenarterie oder -vene
ausgeführt. Eine Vollnarkose sei nur noch auf Wunsch nötig.

Mit alle diesen Vorteilen sei eine kürzere Erholungsphase von einer
Operation verbunden und eine Verbesserung der Lebensqualität,
resümiert Harringer. Er schränkt aber ein, dass es noch keine klaren
Langzeitergebnisse gebe.

Darüber hinaus ist die heutige Generation der Über-80-Jährigen für

Harringer eine völlig andere als früher. «Die Menschen sind durch die

Bank fitter und aktiver», resümiert er. «Viele haben einen
vernünftigen Lebensstil und können sich selbst versorgen.» Wenn alte

Patienten eine Operation wirklich wollten, seien sie oft bessere
Kandidaten als so mancher Jüngere, der rauche sowie Diabetes und
Übergewicht habe.

Herz-Kreislauferkrankungen sind in Deutschland ein Sorgenkind. Selbst
wenn die Sterblichkeit zuletzt leicht sank, führen sie die Top Ten
der Todesursachenstatistik an. Mit mehr als 338 000 Sterbefällen pro
Jahr liegen sie vor Krebserkrankungen. «Doch obwohl alle darüber
reden, gibt es weiter großes Fehlverhalten. Vom Rauchen bis zum
Übergewicht», bilanziert Hugo Katus, Präsident der Deutschen
Gesellschaft für Kardiologie.

Dazu kommt ein großer Unterschied zwischen den Bundesländern. In
Sachsen-Anhalt, fast generell in Ostdeutschland, sterben mehr
Menschen den Herztod als im Westen. Das Alter der Bevölkerung oder
die langen Wege der Ambulanzen auf dem Land reichen dabei als
alleinige Erklärungsversuche nicht aus. Beim akuten Herzinfarkt liegt
das Saarland vorn und Sachsen hinten. «Es ist also keine reine
Ost-West-Problematik», sagt Katus.

Die neuere Forschung vermutet, dass man bei den Ursachen für
Herzkrankheiten mehr Parameter anlegen muss. «Zum Beispiel den
Bildungsgrad der Bevölkerung und die Gesundheitsinformationen in
ländlichen Regionen. Dann Faktoren wie Übergewicht, Raucherquoten und
die Zahl von Vorerkrankungen wie Diabetes», sagt Andresen für die
Herzstiftung. Außerdem müssten auch Arbeitslosenquoten und sozialer
Status berücksichtigt werden, ergänzt Katus.

Nach diesen Erkenntnissen müsse auch Prävention künftig ausgerichtet

sein. Schon heute weiß man: Je individueller und engmaschiger die
Betreuung, desto größer die Erfolge. Sonst rauchten Patienten selbst
nach OP und Reha weiter. Dabei macht es wohl Sinn, Menschen in sozial
schwachen Stadtteilen und Regionen gezielter zu informieren. Bremen
probiert es das bereits aus. Mehr Wissen würde wahrscheinlich mehr
helfen als eine größere Zahl von Kardiologen, mutmaßt Katus.

Bleibt das hohe Alter. Selbst wer gesund lebt, kann dann Probleme mit
dem Herzen bekommen. Und dann? «Über Operationen entscheiden nicht
Herzchirurgen allein. Da sind zuerst die Hausärzte und die
Kardiologen vorgeschaltet», sagt Chirurg Harringer. «Es ist immer
eine individuelle Abwägung im Team.»

Dabei gebe es Grenzen. «Wenn nicht Angehörige enormen Druck machen,
würde wahrscheinlich niemand eine betagte, bettlägerige
Demenzpatientin aus einem Pflegeheim am Herzen operieren», ergänzt
er. «Und auch einem Menschen über 80 mit fortgeschrittener
Krebserkrankung würde das nicht mehr empfohlen.» Für Senioren ohne
gravierende Vorerkrankungen gälten Herz-OPs nicht mehr als großes
Risiko. «Da geht es um mehr Lebensqualität.» Selbst wenn niemand
abschätzen könne, wie viele Lebensjahre gewonnen würden.

Auffällig sei aber, dass die Eingriffe in Deutschland nicht
zentralisiert seien und auch kleinere Kliniken das machten. Da
könnten ökonomische Überlegungen eine Rolle spielen, sagt Harringer.

«Nach den aktuell verfügbaren Daten können wir aber weder
ausschließen noch erhärten, dass einige dieser OPs überflüssig wä
ren
- also eher die Klinik-Bilanz verbessern als die Lebensqualität der
Patienten.»