«Besser gefüllter Werkzeugkasten» - neue Mittel für Diabetes-Therap ie Von Anja Garms, dpa

Die Zahl der Diabetiker in Deutschland steigt weiter. Immerhin gibt
es in der Therapie der Stoffwechsel-Erkrankung Fortschritte.

Berlin (dpa) - «Zucker» ist schon lange eine Volkskrankheit: Um die
sieben Millionen Menschen in Deutschland haben nach Angaben der
Deutschen Diabetes Gesellschaft Diabetes, 95 Prozent davon vom Typ 2.
Für viele heißt das: regelmäßig den Blutzucker checken, regelmä
ßig
Medikamente nehmen, eventuell Insulin spritzen und immer auf eine
Unterzuckerung vorbereitet sein. Medikamente mit einem neuartigen
Wirkmechanismus können die bisherige Therapie der
Stoffwechselerkrankung verbessern - und zum Teil das Risiko für
gefürchtete Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall
minimieren.

Die Rede ist von sogenannten Inkretin-Analoga. Sie wirken nicht wie
etwa die etablierte Insulin-Therapie selbst Blutzucker senkend,
sondern regen die Insulinausschüttung aus der Bauchspeicheldrüse an -
wie es auch die Inkretin-Hormone aus dem Darm gesunder Menschen tun.
Die ersten Präparate dieser Wirkstoffklasse sind bereits seit 2007
auf dem Markt. «Seitdem gab es eine sprunghafte Entwicklung, die die
Qualität der Medikamente noch einmal deutlich verbessert hat», sagt
Michael Nauck, Leiter der klinischen Forschung am Diabetes-Zentrum
Bochum/Hattingen, im Vorfeld eines am Donnerstag beginnenden
Experten-Treffens zur Inkretin-Forschung in Bochum.

Die Präparate sind ausschließlich für Typ-2-Diabetiker geeignet - die

Mehrheit aller Diabetiker. Typ-2-Diabetes ist eine klassische
Zivilisationskrankheit. Sie entsteht meist infolge ungesunder
Ernährung, zu wenig körperlicher Bewegung und damit zusammenhängend
von Übergewicht. Weil die Bauchspeicheldrüse der Betroffenen nicht
mehr genügend Insulin produziert und/oder die Körperzellen nicht mehr
auf dieses Hormon reagieren, steigt der Blutzuckerspiegel an.

Viele Patienten können ihre Blutzuckerwerte durch eine
Lebensumstellung in den Griff bekommen, indem sie sich gesünder
ernähren und mehr Sport treiben. Reicht das nicht aus, können
zunächst Tabletten helfen, die Blutzuckerwerte zu normalisieren, etwa
mit dem Wirkstoff Metformin. Bei schätzungsweise mindestens 1,5
Millionen Menschen ist auch das nicht genug. Sie müssen Insulin
spritzen.

Die neueren Inkretin-Analoga wirken anders als Insulin. Sie imitieren
die Inkretin-Hormone aus dem Darm. Von diesen weiß man bereits seit
längerem, dass sie den Blutzuckerspiegel nach der Nahrungsaufnahme
regulieren, etwa das Hormon GLP-1. GLP-1-Analoga ahmen dieses Hormon
nach und regen die Bauchspeicheldrüse zur Bildung von Insulin an.
Zudem hemmen sie die Ausschüttung von Glucagon, das den
Blutzuckerspiegel steigen lässt, und verlangsamen die Entleerung des
Magens. Sie wirken auch im Gehirn, vermindern Hunger und verstärken
das Sättigungsgefühl.

Es sind bereits mehrere Varianten der GLP-1-Analoga verfügbar, die
sich unter anderem dadurch unterscheiden, wie häufig sie eingenommen
werden müssen. Das Spektrum reicht von zweimal täglich bis zu einmal
pro Woche. Allen Präparaten gemein ist, dass sie keine
Unterzuckerungen auslösen können. Bei einer Insulin-Therapie bestehe
immer das Risiko einer Unterzuckerung, die Dosis müsse ständig
ausbalanciert werden, erläutert Juris Meier, Chefarzt des
Diabetes-Zentrum Bochum/Hattingen. «Das ist mit den Inkretin-Analoga
nicht nötig.»

Deshalb sei auch die tägliche Bestimmung des Blutzuckerspiegels -
meist über einen Piekser in die Fingerkuppe - überflüssig, ergänzt

Nauck, der an der Erforschung der Therapeutika maßgeblich mitgewirkt
hat. Die Einstellung mit den Medikamenten sei so stabil, dass eine
vierteljährliche Kontrolle des Langzeit-Blutzuckerwerts ausreiche.

Ein weiterer entscheidender Vorteil: Klinische Studien haben gezeigt,
dass die GLP-1-Analoga das Risiko für einige gefürchtete
Folgeerkrankungen des Typ-2-Diabetes senken können, für Herzinfarkt
oder Schlaganfall etwa.

«Die neuen Präparate werden Insulin in der Diabetes-Therapie nicht
verdrängen», sagt Nikolaus Scheper, der eine diabetologische Praxis
in Marl betreibt. «Aber wir haben mit den Mitteln einen besser
gefüllten Werkzeug-Koffer für die Behandlung zur Verfügung.»

Einen zentralen Vorteil der GLP-1-Analoga sieht der Mediziner, der
auch erster Vorsitzender des Bundesverbandes der niedergelassenen
Diabetologen ist, in der Tatsache, dass die meisten Patienten bei
Beginn der Therapie abnehmen, in etwa vier bis fünf Kilo. «Das hat
direkte Auswirkungen auf den Stoffwechsel. Jedes Kilo zählt.»

Auch Meier sieht in dem Gewichtsverlust eine Riesenchance. «Das
motiviert die Patienten erheblich. Wir haben schon erlebt, dass
Patienten, die teilweise schon Insulin gespritzt haben, mit Inkretin
und einer begleitenden Schulung zur Lebensstiländerung davon wieder
weggekommen sind.»

Nauck geht davon aus, dass die Präparate der nächsten Generation
sogar noch effektiver auf das Gewicht wirken und auch den Blutzucker
stärker senken. Zudem seien Medikamente kurz vor Beantragung einer
Zulassung, die oral eingenommen werden können - also nicht mehr
gespritzt werden müssen. «Das ist ein richtiger Durchbruch.» Eine
sehr kleine, noch nicht veröffentlichte Studie sei zu dem Ergebnis
gekommen, dass auch bei dieser Art der Einnahme das Risiko von
Herzkreislauf-Folgeerkrankungen gesenkt werde.

Für etwa fünf bis zehn Prozent seiner Patienten komme die
Inkretin-Therapie aufgrund der Nebenwirkungen nicht infrage, sagt
Diabetologe Scheper. Das sind vor allem Völlegefühle und Übelkeit bis

hin zum Erbrechen. Für diese Patienten stehen eine Reihe etablierter
Präparate zur Verfügung, nicht zuletzt Insulin.

Auch Patienten, die Inkretin-Analoga bekommen, müssen eventuell
irgendwann auf Insulin umsteigen. Ist der Punkt erreicht, an dem die
Bauchspeicheldrüse selbst nicht mehr ausreichend Insulin produziert,
muss dieses von außen verabreicht werden, wie Scheper sagt. «Diabetes
ist eine chronische und eine fortschreitende Erkrankung. Die bringt
man nicht einfach so zum Stillstand.»