Brexit-Streit: «Premierministerin, würden Sie bitte einfach gehen?» Von Silvia Kusidlo, Christoph Meyer und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Die als stoisch ruhig geltenden Briten sind nun doch zunehmend
genervt von den Brexit-Streitereien. Für die meisten steckt ihr Land
in einer Krise. Eine Lösung mit Brüssel ist aber nicht in Sicht.

London/Brüssel (dpa) - Eigentlich ist der 52-jährige Mike Ranson
felsenfest davon überzeugt: Großbritannien muss aus der Europäischen

Union heraus. Aber: «Ich bin nicht sehr zuversichtlich, was unseren
Brexit angeht, und auch nicht in Bezug auf unsere Regierung.»

Irgendwie scheint niemand so richtig zu wissen, wie es mit dem
EU-Austritt weitergeht - weder im Parlament noch in der Bevölkerung.
Zu verfahren ist die Situation. Keine 24 Stunden, nachdem ihr
Brexit-Abkommen im Unterhaus krachend durchgefallen war, musste sich
Premierministerin Theresa May am Mittwochabend einem Misstrauensvotum
gegen ihre Regierung stellen. Dieses Mal ging sie als Siegerin
hervor.

Trotz des Brexit-Schlamassels will immerhin eine knappe Mehrheit der
Briten an Mays Regierung festhalten. 53 Prozent sind einer Umfrage
zufolge dagegen, dass die Regierung gestürzt wird, 38 Prozent sind
dafür. Sechs von zehn Briten (61 Prozent) sind inzwischen aber davon
überzeugt, dass Großbritannien in einer handfesten Krise steckt, wie
eine repräsentative Sky-Data-Umfrage bei 1203 Personen ergab.

Wer auf Großbritannien und seinen am 29. März geplanten Brexit
blickt, ist überrascht, wie wenig Bewegung es gibt. Zweieinhalb Jahre
ist die Volksabstimmung her, aber die Fronten zwischen
Brexit-Hardlinern und EU-Befürwortern sind Umfragen zufolge nahezu
unverändert. Lediglich bei den damaligen Nicht-Wählern gibt es
Bewegung - viele bedauern, dass sie sich damals nicht an dem
Referendum beteiligt haben. Im Sommer 2016 hatte eine knappe Mehrheit
(etwa 52 Prozent) für den Ausstieg aus der EU gestimmt. Allerdings
kritisieren nun etliche Briten, dass sie schlecht über die Folgen
eines EU-Austritts informiert gewesen seien.

Fast täglich berichten britische Medien inzwischen über mögliche
Schreckensszenarien, die im Falle eines ungeordneten Brexits
eintreten könnten: zum Beispiel Mangel an Arzneimitteln und frischen
Lebensmitteln oder das Fehlen von wichtigen Zuliefererteilen etwa für
die Autohersteller, da bei einem «No Deal» Chaos durch die Einführung

notwendiger Zollkontrollen entstehen würde. Lastwagen mit Fracht
könnten sich schnell bis zu 50 Kilometer stauen. Gekühlte Lagerräume

für empfindliche Produkte sind in Großbritannien längst ausgebucht.

«Meine Hoffnung ist, dass wir den Austritt aus der Europäischen Union
absagen, weil es sich einfach nicht lohnt», sagte Steven Schnell aus
dem britischen Nordirland. Dort verursacht der Brexit ganz besondere
Probleme: Die Einführung einer festen Grenze könnte in der
Ex-Bürgerkriegsregion die Konflikte wieder anschüren. Das wollen zwar
alle Seiten verhindern, in der praktischen Umsetzung ist es aber
schwierig. Derzeit ist keine Lösung in diesem Streit absehbar.

Es brodelt. Auch im Parlament. Wie soll das Riesenproblem gelöst
werden? Pete Wishart von der Schottischen Nationalpartei hatte am
Mittwoch im Unterhaus seinen ganz eigenen Vorschlag: «Um Gottes
Willen, Premierministerin, würden Sie bitte einfach gehen?»

Und die EU-Seite? Dort herrschte am Tag nach der Breitseite für das
Brexit-Abkommen eine seltsame Mischung aus Ungläubigkeit, Ermüdung
und Selbstbewusstsein. «Ich bin stolz als Europäer», sagte der
Fraktionschef Europäischen Volkspartei, der CSU-Politiker Manfred
Weber, im Europaparlament. Die 27 bleibenden EU-Staaten hätten immer
zusammengehalten, die Europäer fühlten die Stärke der Einigkeit.

Erstaunlich einig scheint sich die EU tatsächlich darin, dass sie
selbst trotz schwieriger Umstände alles richtig gemacht habe, was der
britischen Seite bedauerlicherweise nicht gelungen sei. Es sei jetzt
an den Briten, sich zu entscheiden und den Ausweg aufzuzeigen, sagte
nach dem Londoner Debakel ein EU-Politiker nach dem anderen.

Erstaunlich einmütig klammerte man sich auch an den mit London
ausgehandelten Austrittsvertrag als «bestmöglichen Kompromiss», wie
EU-Chefunterhändler Michel Barnier bekräftigte - ganz so, als hätte
es das vernichtende Urteil der britischen Seite nicht gegeben, die
als Vertragspartnerin ja nun mal gebraucht wird. «Zum jetzigen
Zeitpunkt gibt es nichts, was die EU noch tun könnte», meinte der
Sprecher von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Margaritis
Schinas, als wäre Brüssel nur eine große Zuschauertribüne.

Die Linie dürfte sich jedoch kaum durchhalten lassen, je mehr die
Furcht vor einem Chaos-Brexit Ende März auch in der EU wächst. So
stellte der niederländische Premier Mark Rutte bereits einen Aufschub
des Brexits in Aussicht. Und Barnier selbst bekräftigte, sollte
Großbritannien seine «roten Linien» überdenken, werde die EU darauf

eingehen. Heißt übersetzt: Bliebe Großbritannien doch in der
Zollunion oder gar im Binnenmarkt, würde man sich rasch einig.

Für die Brexiteers im Vereinigten Königreich wäre das wohl eine Krö
te
in der Größe eines Tyrannosaurus rex. Aber die EU klammert sich an
die Hoffnung auf Einsicht in London.