Brexit-Abstimmung: Harter Machtkampf zwischen Regierung und Parlament Von Silvia Kusidlo und Holger Mehlig, dpa

Die Nerven in London liegen blank: Das Brexit-Abkommen wird bei der
Abstimmung am Dienstag im Londoner Parlament wahrscheinlich
durchfallen. Auch die verbleibenden EU-Länder würden darunter leiden.

London/Berlin (dpa) - Kurz vor der entscheidenden Brexit-Abstimmung
nimmt der Machtkampf zwischen der britischen Regierung und dem
Parlament an Schärfe zu. Die Opposition um Labour-Chef Jeremy Corbyn
erhöhte den Druck auf Premierministerin Theresa May und drohte erneut
mit einem Misstrauensvotum. Am Sonntag gab es zudem britische
Medienberichte über Pläne von Rebellen aus der Regierungsfraktion,
dem Kabinett das Heft aus der Hand zu nehmen.

Sollte das Abkommen bei der Abstimmung am Dienstag durchfallen, wäre
das «ein katastrophaler und unverzeihlicher Vertrauensbruch in unsere
Demokratie», schrieb May im «Sunday Express». «Es ist an der Zeit,

die Spiele zu vergessen und das zu tun, was für unser Land richtig
ist.» Auch auf Deutschland kommen im Falle eines ungeregelten
EU-Austritts Großbritanniens erhebliche Mehrbelastungen zu.

May betonte, das Abkommen bringe London die Kontrolle über die
eigenen Grenzen, Gesetze, Handelspolitik und Küstengewässer zurück.
Auch die Kontrolle über das Geld werde wieder erlangt, weil keine
Riesensummen mehr nach Brüssel geschickt werden müssten.

Die Abstimmung über das Brexit-Abkommen zwischen London und den 27
anderen Mitgliedstaaten ist für den Dienstagabend geplant, wie ein
Parlamentssprecher der Deutschen Presse-Agentur sagte. Sie werde
frühestens um 20 Uhr (MEZ) beginnen.

Eine Niederlage Mays gilt als wahrscheinlich. Die Folge könnte ein
ungeregelter EU-Austritt am 29. März sein. In dem Fall droht Chaos in
der Wirtschaft und vielen anderen Bereichen.

Auch die verbleibenden EU-Mitglieder und deren Wirtschaft würde ein
solcher «No Deal» mit zusätzlichen Milliardenkosten belasten. Bis
Ende kommenden Jahres müsste allein Deutschland bis zu 4,2 Milliarden
Euro zusätzlich in den EU-Haushalt einzahlen, berichtete die Funke
Mediengruppe (Sonntag) unter Berufung auf Berechnungen des
renommierten Brüsseler Bruegel-Forschungsinstituts.

Dies wäre der deutsche Anteil zum Ausgleich einer Lücke von insgesamt
16,5 Milliarden Euro, die im EU-Haushalt von April 2019 bis Ende 2020
bei einem britischen EU-Austritt ohne Abkommen entstehen würde, heißt
es in einem Schreiben des Bruegel-Instituts an den Bundestag, das den
Zeitungen vorliegt. Großbritannien ist nach Deutschland der größte
Nettozahler in der EU. Den Mehrkosten für Deutschland stünden nur
etwa 200 Millionen Euro Erlöse aus den Zolleinnahmen gegenüber.

Die deutsche Wirtschaft rechnet bei einem ungeregelten Brexit mit
hohen Belastungen durch Zölle. Der deutsche Industrie- und
Handelskammertag (DIHK) kalkuliert mit jährlich drei Milliarden Euro
an Zöllen, die deutsche Unternehmen für Exporte nach Großbritannien
voraussichtlich entrichten müssten, schrieb die Funke Mediengruppe.
Hinzu kämen weitere rund 200 Millionen Euro für Zollformalitäten.

Auch in Großbritannien liegen mit Blick auf die Wirtschaft die Nerven
blank. Arzneimittelengpässe, Probleme bei der Zulieferung wichtiger
Teile für die Autoindustrie oder Mangel an bestimmten Lebensmitteln
werden bei einem «No Deal» nicht ausgeschlossen. Die englische
Hafenstadt Dover könnte beim Transport von Waren schnell zum Nadelöhr
werden - wegen nötiger Kontrollen würden dort Prognosen zufolge
binnen kurzer Zeit 50 Kilometer lange Staus entstehen. Große
Kühl-Lagerräume sind schon längst in England ausgebucht.

Das Parlament in London ist in Sachen Brexit heillos zerstritten.
Labour-Chef Corbyn setzt auf eine Neuwahl. Das forderten auch
Demonstranten am Samstag in London, die dort nach dem Vorbild der
französischen Gelbwesten-Bewegung gegen die Regierung protestierten.
Die Veranstalter sprachen von mehreren Tausend Teilnehmern.

Die Sparpolitik und der Brexit haben laut der Kampagne «The People's
Assembly Against Austerity», die die Demo organisierte, die Nation
geteilt. «Seit die Tories die Macht übernommen haben, hat sich die
Zahl der Obdachlosen verdoppelt», sagte Kampagnen-Vizechef Steve
Turner. Der staatliche Gesundheitsdienst NHS, der Pflegebereich und
Schulen seien in der Krise. «Wir haben es hier mit einer Regierung zu
tun, der die Alltagssorgen der Menschen völlig fremd sind.»

Der britische Verkehrsminister Chris Grayling warnte vor weiteren
tiefgreifenden Folgen für das Vereinigte Königreich, sollte das
Abkommen am Dienstag durchfallen. Dies werde die Tür für
extremistische politische Kräfte öffnen - «so wie wir es in anderen
Ländern in Europa sehen», erklärte Grayling der «Daily Mail». Der

Minister sagte eine «weniger tolerante Gesellschaft» voraus und ein
mögliches Ende der «moderaten» Politik in Großbritannien.

Brüssel hatte mehrfach betont, dass es beim Brexit-Vertrag keine
Nachverhandlungen mehr gibt - allenfalls «Klarstellungen» seien noch
möglich. Die EU-Kommission sei dazu mit Downing Street in Kontakt.
Sollte die Abgeordneten am Dienstag wider Erwarten doch für das
Abkommen stimmen, dann würde eine Übergangsfrist bis mindestens Ende
2020 greifen. In diesem Zeitraum bliebe praktisch alles beim Alten.

Um einen Austritt ohne Vertrag abzuwenden, wird nun auch vermehrt
über eine Verschiebung des Brexits spekuliert. Dies wäre auf Antrag
Großbritanniens mit Zustimmung aller anderen 27 EU-Staaten möglich.
Alternativ könnte Großbritannien seinen Austrittsantrag zurückziehen

- und es womöglich in einigen Monaten noch einmal versuchen.