Einfach singen: Wie Seelenklempner Stress bewältigen Von Anja Sokolow, dpa

Einen Sonntagsblues kennen sie nicht, denn montags ist Chorprobe: In
Berlin singen Psychologen, Psychiater und Neurologen gemeinsam. Für
die Singing Shrinks, die Singenden Seelenklempner, sind die Proben
weit mehr als nur Gesang.

Berlin/Oldenburg (dpa) - Ein trister, verregneter Herbstabend, die
Straßen in Berlin-Mitte: weitgehend leer gefegt. Einer Gruppe von
Psychologen und Psychiatern scheint dieses Wetter nichts
anzuhaben. Bestens gelaunt schmettern sie immer und immer wieder
Passagen aus Joe Dassins 60er Jahre-Hit «Aux Champs Elysées». Es ist

Montagabend und Probentermin eines ganz besonderen Chors: der
«Singing Shrinks» oder auch: der «Singenden Seelenklempner».

«Wir sind weltweit der einzige Chor, der nur aus Psychiatern,
Psychologen und Neurologen besteht», sagt Gründer Mazda Adli am Rande

der Probe in einer alten Hörsaalruine auf dem Charité-Gelände. Ganz
sicher? «Mir hat zumindest noch nie jemand widersprochen», versichert

der 49-jährige Psychiater. Es gebe zwar zahlreiche
Mediziner-Ensembles - wie etwa das World Doctors Orchestra - aber
ein Chor aus Leuten, die «das Gehirn behandeln» - das sei
einzigartig.

Seit 18 Jahren singen die Seelenklempner bereits gemeinsam,
angeleitet von drei Profis. Die Gruppe tritt bei Jubiläumsfeiern auf
oder auch bei Kongressen. Das Repertoire: ein Genre-Mix mit Liedern
aus der Weimarer Republik bis hin zu Popsongs von Coldplay. Die
Truppe tritt meist in der Region Berlin-Brandenburg auf. Denn: «Wenn
wir verreisen, fehlen schließlich auch in vielen Berliner Kliniken
Chefärzte», sagt Adli.

Um die großen Tourneen geht es den Hobbysängern auch gar nicht. Für
viele ist das Singen vor allem eines: Stressbewältigung. Denn sie
haben es mit Menschen in Ausnahmesituationen zu tun. Mit Patienten,
die unter Schizophrenie, Depressionen oder Angststörungen leiden.
Oder Menschen, die in schweren psychischen Krisen stecken. Hinzu
kommen Forschung, Verwaltungsaufgaben und Gespräche mit
Angehörigen, Ämtern, Polizei und Kollegen.

«Ich muss in meinem Beruf viele seelische Feuer löschen. Es ist
wichtig, dass man weiß, wie man für wirksame Erholung sorgen kann»,
sagt Stressforscher Adli. «Singen ist gesund für Körper und Seele. 
Es
entspannt und macht die Muskeln lockerer, die Stresshormone pegeln
sich ein und positive Emotionen werden aktiviert». Er könne noch so
belastet und gestresst sein: «Sobald ich im Chor singe, ist alles
vergessen», sagt er.

Forscher haben herausgefunden, dass beim Singen im Chor Oxytocin, das
sogenannte Kuschelhormon, sowie die klassischen Glückshormone,
Endorphine, ausgeschüttet werden. Außerdem wird beim Singen
Immunglobulin gebildet - das heißt: Singen stärkt die Abwehrkräfte.


Für Tom Bschor, einen der führenden deutschen Depressionsforscher,
ist das Singen im Chor «Burnout-Prohylaxe». «Man findet seine
Mitte. Wenn für mich einmal ein Termin ausfällt, fehlt mir etwas»
,
sagt der Chefarzt der psychiatrischen Abteilung in der
Schlosspark-Klinik Charlottenburg. Der Chor sei zudem eine tolle
Gemeinschaft. «Wir sind Freunde und tauschen uns auch beruflich aus»,
so Bschor, der von Anfang an dabei ist.

Der Musikwissenschaftler und Autor Gunter Kreutz («Warum singen
glücklich macht») bestätigt diese Erfahrungen. «Singen tut psychisc
h
sehr gut. Es gibt unendlich viele Berichte darüber, dass sich Sänger

nach einer Chorprobe erfrischt, gestärkt und entspannt fühlen», so
der Professor an der Universität Oldenburg. Seit etwa 20 Jahren
stünden Laienchöre zunehmend im Interesse der Wissenschaft.
Untersuchungen hätten zudem gezeigt, dass das Singen im Chor auch ein
meditatives Erlebnis sei. «Man kommt zu sich und wird achtsamer
im Umgang mit sich und der Umwelt», so Kreutz.

Genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen in Chören singen, gibt es
laut Deutschem Chorverband nicht. Die Zahl der verbandlich
organisierten Chöre liege bei etwa 60 000. Hinzu kämen Betriebschöre,

Schulchöre und Chöre der freien Szene, deren Zahlen nirgendwo
systematisch erfasst würden, sagt Sprecherin Nicole Eisinger. «Aus
unseren Erfahrungen und Beobachtungen heraus ist gerade dies aber ein
Bereich, der verstärkt Zulauf erfährt», so Eisinger mit Blick auf
letztere. «Daneben boomen auch die völlig zwanglosen Mitsingformate
wie zum Beispiel der «Ich-kann-nicht-singen-Chor» aus Berlin, das
Rudelsingen oder große Mitsing-Stadionevents», ergänzt Eisinger.

Der Berliner Chorleiter Sven Ratzel betreut sechs Ensembles, darunter
auch die Seelenklempner. «Jeder Chor ist speziell, wenn eine Gruppe
so etwas Identitätsstiftendes hat, ist das etwas Feines», sagt er mit
Blick auf den gemeinsamen beruflichen Hintergrund der Singing
Shrinks.

Ihre Ursprünge hat der Psychiaterchor bei der Verabschiedung eines
Klinikdirektors, für den Adli und Kollegen vor 18 Jahren
ein Ständchen sangen. «Das hat so viel Spaß gemacht, dass wir
weitergemacht haben», so Adli. Der Probentermin sei nicht zufällig
gewählt. «Die Montage sind im Klinikalltag besonders belastend. Jetzt
hat man keinen Sonntagsblues mehr, denn am Montag ist ja Chorprobe.»