Merkel drohen neue Chaoswochen - und die Erben laufen sich warm Von Jörg Blank und Ruppert Mayr, dpa

Kriegt die Union noch die Kurve vor dem Abgrund? Die Nerven liegen
blank. Die CSU-Spitze sucht schon jetzt Schuldige für ein
Bayern-Desaster. Kann die Kanzlerin am Ende ihre Macht erhalten?

Kiel (dpa) - Es ist eine Anspannung wie wohl noch nie in der Union
seit Beginn der Ära Angela Merkel vor gut 13 Jahren. Zerlegt sich die
CSU-Spitze nach einem Absturz bei der Bayern-Wahl in einer Woche?
Bringt ein schmutziger Machtkampf zwischen Parteichef Horst Seehofer
und Ministerpräsident Markus Söder und die Suche nach Schuldigen auch
die Hessen-CDU zwei Wochen später um die Macht? In der CDU-Spitze
fürchten manche, dass eine kaum beherrschbare Dynamik entsteht, die
auch in Berlin eine neue Regierungskrise auslöst. Und am Ende
CDU-Chefin und Kanzlerin Merkel das Amt kosten könnte.

In der CDU laufen sich am Wochenende beim Deutschlandtag der Jungen
Union in Kiel schon mal drei Tage lang mögliche Nachfolgekandidaten
Merkels warm. Der neuen Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer
geben die gut 300 Delegierten des Unions-Nachwuchses ein starkes
Zeichen der Unterstützung mit auf den Weg in die schwierigen nächsten
Wochen und Monate - und anderen auch.

Schon bei einer ausgelassenen JU-Party im Norwegenkai, wo sonst die
Passagiere für die Fähren in den Norden abgefertigt werden, wird
Kramp-Karrenbauer, die Ex-Ministerpräsidentin des Saarlands, am
Samstagabend mit lautstarken «Annegreat, Annegreat»-Sprechchören
gefeiert. Kramp-Karrenbauer kann sich vor Selfie-Bitten kaum retten.

Am Sonntag hält sie dann eine ziemlich konservative Rede, das kommt
beim Nachwuchs gut an. Zum Song «For a better day» des schwedischen
DJs Avicii zieht sie in die Halle - einen besseren Tag wünschen sich
angesichts der Umfragewerte im Sturzflug wohl alle JU-Mitglieder.

Die Generalsekretärin schickt eine scharfe Mahnung nach München, wo
Seehofer und Söder schon eine Woche vor der Landtagswahl versuchen,
sich gegenseitig die Schuld für ein mögliches Desaster in die Schuhe
zu schieben. Das hätte Franz Josef Strauß nie gemacht. Später folgt
eine Attacke gegen Recep Tayyip Erdogan - wenn der türkische
Präsident nicht aufhöre, einen Keil zwischen Deutschtürken und
deutsche Gesellschaft zu treiben, müsse nochmal die Abschaffung des
Doppelpasses diskutiert werden. «Illoyalitäten» könne man auf Dauer

nicht dulden.

Die JU-ler sind begeistert - noch immer tragen sie Merkel deren
Verhalten auf dem CDU-Parteitag 2016 nach. Damals hatte der Parteitag
auf JU-Antrag mit knapper Mehrheit eine Abschaffung der Regelung zur
doppelten Staatsbürgerschaft gefordert. Direkt danach machte Merkel
deutlich, dass sie sich nicht an den Beschluss halten werde.

Spürbar grenzt sich Kramp-Karrenbauer auch von ihrer Fördererin
Merkel ab, als sie sagt, heutzutage reiche es nicht mehr aus, einfach
darauf zu setzen, gute Regierungsarbeit abzuliefern. Mit guter
Regierungsarbeit überzeugen - das war oft von der Kanzlerin zu hören,
wenn es um Rezepte aus der Krise ging. Jetzt seien Visionen für die
Zukunft gefragt, ruft die Generalsekretärin, bis sie heiser ist.

Wer sich immer nur damit begnüge, den Menschen zu sagen, man habe
Schlimmeres verhindert, dürfe sich nicht wundern, wenn er bei 27
Prozent stecken bleiben werde, sagt Kramp-Karrenbauer. «Wir müssen
kämpfen, dass wir wieder nach oben kommen.» Noch deutlicher wird sie
am Ende ihrer Rede: «Parteien werden nur dann gewählt, wenn sie
begeistern können. Wenn sie ein Feuer in sich haben, das nicht nur
das kleine Flackern sozusagen von Sitzungswoche zu Sitzungswoche ist.
Sondern wenn sie etwas in sich tragen, das Menschen für sie
einnimmt.» Das kann als Spitze gegen Merkel verstanden werden.

Vor Kramp-Karrenbauer feiern die JU-ler minutenlang den neuen
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus. Er bekommt zum Empfang den
Peter-Fox-Song «Alles neu» zu hören, in dem es die Zeilen gibt: «Ic
h
bin das Update» und «Alles glänzt, so schön neu». Das ist natür
lich
darauf gemünzt, dass der Westfale kürzlich gegen den ausdrücklichen
Willen der Kanzlerin deren Vertrauten Volker Kauder gestürzt hat.
Manche meinen, der Westfale habe für seine inhaltlich starke Rede
sogar stärkeren Jubel bekommen als die Generalsekretärin.

Ihren Liebling Jens Spahn begrüßen sie in Kiel am Samstag mit dem
Lied «Ich spring von Level zu Level zu Level» des Rappers Marteria.
Was mag wohl das nächste Level sein, auf das der Gesundheitsminister
springt? Parteichef? Kanzler? Spahn gibt sich zupackend, aber auch
staatstragend zurückhaltend.

Vor Spahn und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, dem viele in
der Halle eine ziemlich fahrige Rede attestieren, hat Merkel am
Samstag ihren Auftritt. Zum Einmarsch muss sie sich «Don't Stop
Believin'» («Hör' nicht auf, zu glauben») anhören. Das Lied der
US-Rocker von Journey ist aus den 1980er Jahren, der Inhalt klingt
aktuell: Es geht um ein Kleinstadtmädchen in seiner einsamen Welt:
«Sie nahm den Mitternachtszug nach irgendwo...» Soll das als
Anspielung auf eine Ziellosigkeit verstanden werden, mit der Merkel
nach Ansicht vieler im Saal die Umfragewerte in den Keller treibt?

Merkel hält dann eine teils angriffslustige Rede, die entgegen
mancher Erwartungen ziemlich gut im Saal ankommt. Die Umfragen seien
ja ganz gut erklärbar, hält sie dem Nachwuchs entgegen. Sie meint den
erbitterten Streit, mit dem CSU und CDU immer mehr Anhänger vergrault
haben. Nun dürfe man nicht weiter «miteinander Fingerhakeln».

Viele in der Halle johlen, als sie zum Schluss süffisant sagt: «Der
geschäftsführende JU-Bundesvorstand: Schön männlich. Aber 50 Prozen
t
des Volkes fehlen.» Merkel setzt noch einen drauf: «Und ich sag'
Ihnen: Frauen bereichern das Leben. Nicht nur im Privaten, auch im
Politischen. Sie wissen gar nicht, was Ihnen entgeht.» Im
geschäftsführenden JU-Vorstand - Vorsitzender, Stellvertreter und
Schatzmeister - liegt die Frauenquote bei: Null.

Dass die Kanzlerin sich selbst keine Illusionen über ihre Lage in der
CDU macht, zeigt eine kleine Szene mit JU-Chef Paul Ziemiak. Merkel
bekommt Wandersocken und eine Windjacke. Sie ziehe daraus die
Schlussfolgerung, «dass sie mich nicht im Regen stehen lassen
wollen», sagt die CDU-Chefin trocken. Gut möglich, dass Merkel da an
den Wahlparteitag Anfang Dezember denkt, bei dem sie eigentlich
erneut als Vorsitzende kandidieren will.

Ziemlich wahrscheinlich, dass die Kanzlerin die Utensilien für
stürmische Zeiten bald gut gebrauchen kann. Zwar setzen sie in der
CDU-Spitze auf eine Art «Restvernunft» bei CSU-Chef Seehofer, dass er
nach der Landtagswahl am Sonntag nicht die Union, Merkel und die
ganze große Koalition in den Abgrund reißt.

Doch selbst wenn die Union nach der Bayern-Wahl nicht ins Chaos
stürzt und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) am 28.
Oktober die Macht verteidigt: Unklar ist, wie sich die SPD verhält.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat vorgebaut: Die
deutsche Demokratie sei gefestigt genug, auch einen Austritt der SPD
aus der großen Koalition und eine sich anschließende
Minderheitsregierung zu verkraften. Merkel hält von einer solchen
Minderheitskonstellation gar nichts.