«Wildman Steve»: Ein New Yorker futtert sich durch den Central Park Von Johannes Schmitt-Tegge, dpa

Ein Großstadtdschungel aus Stahl und Beton scheint kaum ein passendes
Biotop für essbare Pflanzen zu sein. Naturkenner Steve Brill weiß es
besser und zeigt in New York, wie man wild Gewachsenes verkochen
kann. Er führt in eine Zeit, bevor es Supermärkte und Bauernhöfe gab.


New York (dpa) - Steve Brill ist mal wieder auf Nahrungssuche, und
heute ist er an einem Baumstumpf vor dem New Yorker Central Park
fündig geworden. Brill pflückt eine Handvoll Dachpilze und sagt:
«Wenn ihr eine Suppe oder Eintopf macht oder ein paar schmackhaftere
Zutaten dünstet, könnt ihr diese hinzufügen.» Herausragend schmecke
n
die hellbraunen, neben parkenden Autos gewachsenen Pilze nicht, aber
sie sind essbar - wie so ziemlich alles, was Brill in den Parks der
Millionenstadt sammelt.

Steve Brill ist Naturliebhaber, Welterklärer und Hobby-Koch, eine
Mischung aus amerikanischem Peter Lustig und Lieblingslehrer aus der
Grundschule. Mit seinem Tropenhelm, erdtonfarbener Funktionskleidung
und Wanderrucksack samt Rundspaten vermutet man ihn eher auf einer
Expedition in tropischen Vegetationszonen. Aber der 69-Jährige führt
durch städtische Parks und zeigt Bewohnern des Großstadtdschungels,
was in der Metropole für essbare Schätze sprießen. Die Touren laufen

seit Anfang der 1980er, zudem hat Brill mehrere Pflanzen- und
Kochbücher geschrieben und eine App zur Erkennung wilder Pflanzen
entwickelt. «Wildman Steve» nennt er sich, der «wilde Mann» eben.


Brills Gruppe muss nicht lange suchen. Wenige Schritte vom Treffpunkt
im Central Park entfernt wächst die mit Rucola verwandte Virginische
Kresse, die wegen ihres scharfen Geschmacks «Poor Man's Pepper»
genannt wird. Arme Menschen nutzten den «Arme-Leute-Pfeffer» im 15.
Jahrhundert, um halbwegs verdorbenes Essen genießbar zu machen,
erklärt Brill. In Salaten oder zum Kochen mit Kartoffeln und Pasta
sei der Kreuzblütler gut, mit Essig, Miso-Soße und Estragon könne man

mit den Samen im Mixer sogar Senf herstellen.

Dann schickt er sie los, den Hügel hinauf: «Bedient euch! Lasst die
Wurzeln stecken, diese wachsen nach.» Mit Plastiktüten schleichen sie
am Gebüsch entlang und rupfen die grünen Stiele aus. Im Lauf der Tour
haben einige bald auch Blätter der als Heilpflanze bekannten Wegmalve
(Tee), weißen Gänsefuß (passt gut mit Reis und Spinat) und den nach
Zitrone schmeckenden Sauerklee gesammelt. «Ich hätte nie gedacht,
dass ich Pflanzen mit Zitronen- und Pfeffergeschmack finden kann»,
sagt eine Teilnehmerin. «Es gibt sie tonnenweise», sagt Brill. «So
ernährten sich die Menschen, bevor es Supermärkte und Bauernhöfe
gab.» Die Himbeeren und Brombeeren sollen hier auch bald reif sein.

Brills Touren liefen nicht immer so harmonisch ab, denn gesetzlich
ist es verboten, Pflanzen aus den Parks mitzunehmen. 1986 nahmen zwei
Parkbeamte in Zivilkleidung an der Führung teil und ließen Brill in
Handschellen abführen, nachdem er Löwenzahn gepflückt und gegessen
hatte. «Park verpasst Kraut-Experten Maulkorb», schrieb die «New York

Daily News». Der damalige Parkbeauftragte Henry Stern habe sich
einfach nicht mit der Idee anfreunden können, dass jemand «unsere
Parks isst». Das Foto seiner Fingerabdrücke nach der Festnahme hat er
auf seine Website gestellt.

Den Gedanken, dass ein paar gezupfte Kräuter der Grünanlage schaden
könnten, hält Brill für absurd. Die Maschinen der Parkbeamten seien
viel stärker, außerdem wecke er in den Menschen - darunter auch viele
Kinder und Schulklassen - ein Verständnis für den Naturschutz. «Die
Luft, die Atmosphäre, die Meere, da liegen die Probleme», sagt Brill.
Und je mehr Touren er anbiete, desto mehr Menschen könnten der natur-
und klimafeindlichen Politik von Präsident Donald Trump etwas
entgegensetzen.

Den erzieherischen Mehrwert seiner Führungen - oder das «PR-Fiasko»
der Festnahme, wie Brill sagt - erkannte wohl auch die Parkbehörde.
Sie ließ die Anzeige fallen und stellte ihn über vier Jahre als
Pflanzen-Erklärer an. Heute gehören Gemeindegärten und Kurse zu Natur

und Pflanzenwelt fest zum Freizeitprogramm in New York. Die Farm
«Brooklyn Grange» baut auf zwei Dächern jährlich 22 Tonnen
Lebensmittel an, auf dem schwimmenden Gemüsegarten «Swale» werden auf

einem 25 Meter langen Lastkahn Obst und Gemüse sowie Gewürze
angebaut. Beide bieten Workshops und Programme für Freiwillige an.

Eine Chinesin namens Lily gehört zu Brills Stammgästen. «Ich habe
seine App, aber manchmal muss ich mein Wissen auffrischen», sagt sie.
Was sie mit Brill finde, werde auch in der chinesischen Küche
genutzt. Als die Gruppe vor einem Klettenstrauch Halt macht und Brill
mit seinem Spaten die Wurzel freilegt, geht Lily mit der Nagelschere
ans Werk - die Wurzel ist als Zutat in der japanischen Küche bekannt.
Brill hat sie dagegen gedünstet, in Apfelsaft, Weinessig, Sojasoße
und Olivenöl mit Knoblauch und Lorbeer eingelegt und daraus veganes
Trockenfleisch gemacht. Er verteilt Proben aus einer Tupperdose, die
braunen Streifen schmecken köstlich.

Brills Tochter Violet tritt schon jetzt in die Fußstapfen des Vaters.
Bereits im Alter von zwei Monaten sei sie mit auf seinen Touren
gewesen, sagt die 14-Jährige - «so wie andere damit aufwachsen, zum
Supermarkt zu gehen». Ihre Freunde würden nicht so viel Zeit im
Freien verbringen, die seien eher mit «ihren Geräten und sozialen
Netzwerken» beschäftigt. In ihrem Beruf will sie später etwas für d
ie
Umwelt tun und dabei so viel wie möglich in der Natur verbringen.

Oder, wie der «Wildman» zu Anrufern auf seiner Mailbox ruft: «Wir
sehen uns im Feld!»