Kindergeld für Ausländer: Deutsche Aufregung und europäische Realit ät Von Georg Ismar, Thomas Lanig und Sebastian Fischer, dpa

Die Debatte ist hitzig. Die einen beklagen «zügellose
Kindergeldtransfers» ins Ausland, die anderen sprechen von Schleppern
und Betrügern. Aber wie groß ist das Problem wirklich?

Berlin (dpa) - Immer mehr Familien bekommen für ihre im Ausland
lebenden Kinder monatlich Geld aus der deutschen Familienkasse.
Gleichzeitig beklagt eine Reihe deutscher Städte Probleme mit
Betrugsfällen beim Kindergeld. Das eine hat mit dem anderen nichts zu
tun, aber in der Debatte wird das nicht immer auseinander gehalten.
Hier einige Zahlen und Fakten:

Wer bekommt überhaupt Kindergeld?

Eltern mit deutscher oder einer EU-Staatsangehörigkeit erhalten, wenn
sie in Deutschland leben, für jedes minderjährige Kind in ihrem
Haushalt Kindergeld - unabhängig davon, ob sie arbeiten oder nicht.
Bürger der EU, des Europäischen Wirtschaftsraums und der Schweiz oder
deren Kinder können aber auch für die Zuwendung in Frage kommen, wenn
sie nicht in Deutschland wohnen. Voraussetzung ist dann aber eine
Arbeit oder selbstständige Tätigkeit hierzulande - wie etwa bei
Pendlern aus Nachbarstaaten. Andere Ausländer erhalten in der Regel
die Leistung nur dann, wenn sie etwa eine Arbeitsstelle, genügend
eigene finanzielle Mittel zum Lebensunterhalt oder die Anerkennung
als Flüchtling oder Asylbewerber vorweisen können.

Wie viele Kinder beziehen Kindergeld in oder aus Deutschland?

Ende Juni waren es 15,29 Millionen. 12,27 Millionen dieser Kinder
haben die deutsche Staatsbürgerschaft, rund drei Millionen sind
Ausländer. Auch von ihnen leben die allermeisten in Deutschland. 268
336 Kinder beziehen im europäischen Ausland Kindergeld vom deutschen
Staat, weil ihre Eltern in Deutschland arbeiten. 2017 wurde
Kindergeld in Höhe von 343 Millionen Euro auf ausländische Konten
überwiesen, weniger als ein Prozent der Zahlungen ins Inland.

Woher stammen die meisten ausländischen Kinder?

Unter den EU-Ausländern, die Kindergeld aus oder in Deutschland
bekommen, liegt Polen mit 277 551 Empfängern vorn, aus Rumänien sind
es 138 217. Den Spitzenplatz nehmen Kinder türkischer Herkunft ein -
mit 587 393 Empfängern. 2017 flossen insgesamt 35,9 Milliarden Euro
Kindergeld, davon 7,2 Milliarden Euro an Kinder ausländischer
Herkunft.

Wie viel Kindergeld wird überhaupt gezahlt?

In Deutschland gibt es derzeit für das erste und zweite Kind jeweils
194 Euro im Monat. Für das dritte sind es 200 Euro, ab dem vierten
Kind 225 Euro. Zum Vergleich: In Bulgarien gibt es rund 20, in
Rumänien 18 bis 43 Euro im Monat.

Ist die Zahl ausländischer Empfänger angestiegen?

Ja. Seit Ende 2017 ist die Zahl der Kinder, die außerhalb
Deutschlands in der EU oder im Europäischen Wirtschaftsraum leben und
Kindergeld aus Deutschland bekommen, um 10,4 Prozent gewachsen. Auch
die Zahl der Empfänger im Inland steigt. Dies hängt zum einen mit der
insgesamt steigenden Beschäftigung zusammen, zum anderen mit der
Freizügigkeit innerhalb der EU. Auch werden immer mehr Fach- und
Pflegekräfte aus anderen Ländern gebraucht. Und auch der Brexit, also
der geplante EU-Austritt Großbritanniens, führt zu einer Verlagerung
von Arbeitskräften Richtung Deutschland. Die Zahl der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus Osteuropa ist von 2015
bis 2017 um 295 000 auf knapp 1,2 Millionen gestiegen.

Warum dann die Aufregung?

Weil es gerade aus Rumänien und Bulgarien nach Meinung mehrerer
Oberbürgermeister eine verstärkte Migration gibt, um Kindergeld zu
kassieren. Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link (SPD) sieht
Schlepper am Werk, die Menschen in schrottreifen Wohnungen
unterbringen, ihnen eine Scheinbeschäftigung verschaffen und oft
einen Teil der Kindergelder einbehalten. Romani Rose, Vorsitzender
des Zentralrats der Sinti und Roma, warnt vor Stimmungsmache und
betont: «Die betroffenen Familien sind die Opfer von kriminellen
Banden, deren Hintermänner in der Regel deutsche Staatsbürger sind.»


Wie groß ist das Ausmaß des Betrugs?

Die Familienkasse betont, es gebe keinen flächendeckenden Betrug.
Aber immerhin will sie jetzt intensiver gegen Betrüger vorgehen.
Stichproben ergaben bisher einzelne Missbrauchsfälle vor allem in
Nordrhein-Westfalen. Bundesweite Zahlen zum Missbrauch beim
Kindergeld gibt es bisher aber nicht. Auf eine AfD-Anfrage antwortete
die Bundesregierung im März: «Die gewünschten Zahlen können nicht
genannt werden, da eine Statistik über Missbrauchsfälle beim
Kindergeld nicht existiert.»

Was will die Bundesregierung tun?

Neben mehr Datenabgleich und dem Aufspüren von Betrug etwa durch
gefälschte Geburtsurkunden für Kinder, die gar nicht existieren, will
die Koalition von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) seit Jahren die
steigenden Kosten dämpfen. Und zwar durch eine sogenannte
Indexierung, also eine Zahlung, die sich an den Lebenshaltungskosten
in dem jeweiligen Land orientiert. Österreich plant das in einem
nationalen Alleingang, die Neuregelung soll 2019 in Kraft treten,
könnte allerdings schnell vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH)
landen.

Wie ist die Lage auf europäischer Ebene ?

Die EU-Kommission sieht eine Indexierung als Verstoß gegen das
EU-weite Diskriminierungsverbot. Allerdings sah das im Februar 2016
noch anders aus: Auch als Zugeständnis an die Briten, die damals noch
nicht über den Brexit abgestimmt hatten, beschloss ein EU-Gipfel in
Brüssel Einschränkungen bei Sozialleistungen für EU-Ausländer. Merk
el
sagte damals: «Gerade die Frage des Sozialmissbrauchs beschäftigt uns
in Deutschland auch.» Das gelte etwa für die Regelung, das Kindergeld
an die Lebenshaltungskosten in den Ländern anzupassen, in denen die
Kinder tatsächlich leben. «Auch Deutschland kann davon Gebrauch
machen, kann ich mir vorstellen.»

Warum ist dann nichts passiert?

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren versucht, die
Kindergeldindexierung für Ausländer zum Teil eines EU-Gesetzespakets
zu machen, das die Koordinierung der Sozialsysteme verbessern soll.
Ihr gelang es allerdings nicht, eine ausreichend große Mehrheit an
Unterstützern zu finden. Im Juni 2018 wurden deswegen die Beratungen
im Rat der Mitgliedstaaten vorläufig abgeschlossen. Nun soll mit dem
EU-Parlament über das Gesetzespaket zur «Modernisierung der
Sozialsystemkoordinierung» verhandelt werden, eine Indexierung ist
dabei aber kein Thema. Die Mehrheit der Abgeordneten aus Süd-,
Mittel-, und Osteuropa ist nach Angaben aus Parlamentskreisen
dagegen.